Federal Literature Jury

Eidgenössische Jury für Literatur

Weshalb lesen wir

weil wir zu viel gelesen haben
früher unter der Decke als Kinder
um uns nun der Leere zu ergeben

denn wir haben gelernt
dass in den nächtlichen Seiten
das Leben noch einmal stattfindet

dass uns die grauen Stunden
des Fliehens und Verstehens
unseren Windungen näherbringen

ja wir wissen nun
dass die alten Alphabete
gezeichnet mit der Kreide

auf der Tafel der Gewissheit
uns doch immer wieder
ihr Unvermögen erzählen

ja wir lesen
und unsere Augen sind Fackeln
im namenlosen Wald

wo die Jahreszeiten stolpern
wo die zum Wandern verdammten
zusammenbrechen wie die Vernunft

denn wir sind nicht gleichgültig
vor der Wut derer die verlieren
und vor dem Frevel am Leben

denn wir holen gemeinsam Luft
auch wenn der Boden von Blatten wankt
und alles auseinanderfällt

denn auch wir spüren
den Rauch der Brände
und den Atem der Verletzten

denn wir suchen hungernd
eine gemeinsame Welt
und Boden zum Bewohnen

denn unser Blick auf die Vergangenheit
ist nie genug
entstaubt 
denn unser Blick auf die Gegenwart
muss das Ungewisse
erfassen

ja wir lesen trotz allem
denn alles ist gewiss gesagt
aber niemand hat es gehört

denn die Grossen Erzählungen gelten nicht mehr
und wir alle wissen dass keine Rede
die Welt je erschöpfen wird

denn wir suchen ständig nach den Worten
die uns fehlen
wenn die Henker schreien

denn die Schönheit ist verschwunden
und sie fehlt uns nun beim Bauen
von Mauern aus Wahrheit

denn wir hören die Gewalt
der erschöpften Stimmen
in der schneidenden Stille
_

deshalb lesen wir
und bleiben mutig
wenn der Horizont einreisst

damit es sich aus dem Unbekannten erhebt
das Singen der unerlösten Leiden
und das Schreien der erlebten Freuden

damit sie schliesslich ertönen
die schreibenden Stimmen
in überbordender Dissonanz

deshalb haben wir gelesen
und aus 180 Texten sieben ausgewählt
die uns daran erinnern

dass die Literatur der Tiefe
diese zweite Sprache ist
die weitherum verkündet

ja, ich fühle mit der Welt
ja, du fühlst mit der Welt
ja, wir fühlen mit der Welt


Thierry Raboud