Über dem Krater des Vulkans
Wozu Literatur? Wozu diese Kathedrale des Denkens, wenn sich die Realität in undenkbare Abgründe stürzt? Müssen wir das Übel wirklich in Worte fassen, dem Unglück ein Woanders entgegenstellen, aus der Verzweiflung Geschichten schöpfen? Ich stelle mir zuweilen die Frage, ob die Tragik unserer brennenden Zeit uns nicht dazu bringen sollte, diese Geheimgespräche in der Traumwelt zu beenden, die Bücher zu schliessen, um dem Feuer mutig und mit unserer ganzen Kraft entgegenzutreten. Bedeutet Lesen nicht, den Blick abzuwenden? Ist Schreiben nicht das Aufzeichnen einer Strecke, die nicht für uns bestimmt ist, eines Weges, der von jenem abweicht, den wir zu gehen haben, ob wir nun wollen oder nicht? Wenn uns die geltende Ordnung und die vorausgesagte Unordnung so unerbittlich und unabwendbar erscheinen, ist es denn angebracht, uns davor ins Papier zu flüchten?
Hölderlin stellte die ewige Frage des Wozu schon vor zweihundert Jahren: «Wozu Dichter in dürftiger Zeit?» Er wusste nicht, dass das Dichten und die dürftige Zeit bestehen bleiben sollten, um von Ausbruch zu Ausbruch im Einklang aufzuflammen.
Und doch gebe ich mich immer wieder dem einladenden Geflüster der Bücher hin und finde darin Antworten auf dieses Wozu, das unseren Durchhaltewillen bedroht. Und immer wieder wird mir bewusst, wie sehr diese unüberwindbare Distanz, die Zäsur des Spiels zwischen Wort und Welt, mir hilft, letzterer standzuhalten. «Wir spannen neue Brücken / über alte Gräben», schreibt Klaus Merz in einem Gedicht (Unerwarteter Verlauf, Gedichte, Haymon, 2013). Und wir Leserinnen und Leser überschreiten sie, vorübergehend befreit von unseren Mühen, und überblicken die «ungeheure und unerträgliche Banalität unserer Zeit», wie es der Philosoph Philippe Lacoue-Labarthe nennt. Lesen ist also kein Abwenden von den Bränden der Realität, sondern ein Überqueren des Vulkankraters auf dem Hochseil.
Über solche Wege bin ich zusammen mit Francesca Baranzini, Christa Baumberger, Dominique Bressoud, Matthias Lorenz, Arno Renken, Elise Schmit, Niccolò Scaffai und Rico Valär gegangen. Sie haben uns weit geführt: über den helvetischen Raum hinaus, der in seiner Enge kaum einen Schritt zulässt, aber auch über die Grenzen der Genres und der Sprachen hinweg, denn die Schweizer Literatur gibt es nur in der Mehrzahl. Auf den Brücken der Vorstellungskraft sind uns noch mehr Fragen begegnet: Können wir über unsere Vergangenheit sprechen, wenn wir sie nicht erlebt haben? Können Freundschaft und Absurdität zusammenfinden, um neue Realitäten zu schaffen? Lässt sich Amerika auf Schweizerdeutsch beschreiben? Gibt es eine Landschaft hinter der Postkarte? Können wir über Jahrhunderte hinweg eine Ahnin kennenlernen? Sind Tiere die Boten unserer Erinnerungen? Können wir mit der Stimme eines Kindes vom Krieg erzählen?
Siebenmal Ja! sagen uns die kühnen Werke, die wir nach Monaten des Lesens und tagelangen, manchmal feurigen Diskussionen für die diesjährige Auszeichnung ausgewählt haben. Danach sind wir von den neuen Brücken heruntergestiegen in den Krater der Realität und haben ihrer «ungeheuren und unerträglichen Banalität» entgegnet: Du sperrst die Welt nicht ein, denn es gibt ein Woanders.
Thierry Raboud