Eidgenössische Jury für Literatur

Eidgenössische Jury für Literatur

Der Welt mit Mut begegnen

«Das Schreiben liegt hinter der Malerei fünfzig Jahre zurück», hielt der Künstler Brion Gysin vor einem halben Jahrhundert fest, als er das Geschriebene mit spitzer Klinge zerteilte und die Cut-up-Technik erfand, die ihren Ursprung in den Collagen des Kubismus hatte. Während das Spiel mit dem Wiederverwenden und Montieren in Malerei, Musik, Film und Plastik schon seinen selbstverständlichen Platz hatte, schien ihm die Literatur noch an den festgefahrenen Ideen der Vergangenheit zu kleben: Originalität, Authentizität, Inspiration.

Würden die Künste wie Rennpferde auf einer nie endenden Strecke zwischen Vergangenem und Avantgarde dem Fortschritt hinterher galoppieren, könnten wir sagen, das Schreiben habe seinen Rückstand bisher nicht aufgeholt, da es seinem Anspruch des Aussprechens treu geblieben sei. Ist die Literatur also langsam? Ist sie, wie Kenneth Goldsmith sagt, festgefahren, weil sie es nicht schafft, auf der digitalen Welle zu surfen und die Figur des schöpferischen Genies hinter sich zu lassen, um endlich mit grossen Schritten in die Gegenwart zu treten?

Ziehen wir keine voreiligen Schlüsse. Das Buch hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Noch immer bildet es ein unübertroffenes Gespann mit den Gedanken, die sich über lange Zeit hinweg entfalten und die – angesichts einer immer wieder aufs Neue auszusprechenden Zukunft – die Ausdauer von La Fontaines Schildkröte den ziellosen Sprüngen des Hasen vorziehen. Wenn sich die Schweiz Gedanken macht, dann schreibt, übersetzt und publiziert sie. 156 Werke wurden der Jury der Schweizer Literaturpreise in diesem Jahr vorgeschlagen. Zum ersten Mal sind die französischen Texte dabei in der Mehrheit. In dieser verrückten Vielfalt der Welten und Ästhetiken, deren einzige Gemeinsamkeit der geografische Zufall der Schweiz ist, sehen wir nicht etwa das Abbild einer örtlich begrenzten Überproduktion, sondern vielmehr die Bestätigung, dass das Schreiben nach wie vor ein extrem wirksames – vielleicht das beste – Mittel ist, um der Realität entgegenzutreten und zu verstehen, was uns mit ihr verbindet.

Vor allem aber zeugt diese Fülle an Worten, die Christa Baumberger, Geneviève Bridel, Matthias Lorenz, Arno Renken, Elise Schmit, Niccolò Scaffai, Rico Valär, Prisca Wirz und ich im Sommer gelesen, im Herbst beurteilt und im Frühling gefeiert haben, von einer sehr erfreulichen Ausweitung des Literaturbegriffs. Bereits seit einigen Jahrzehnten findet diese Öffnung statt und macht das Buch zu einem Objekt, in dem Fiktion, Spoken Word, Theater, Graphic Novel und Lyrik mit dem gleichen Anspruch – und der gleichen Legitimität – abgedruckt und ausgedrückt werden können. Die Schweizer Literaturpreise begleiten diese Entwicklung seit es sie gibt. Schon oft wurden Texte von Künstlerinnen und Künstlern ausgezeichnet, die in anderen Sparten wie der Malerei oder der Plastik gearbeitet und sich erst später für die Literatur entschieden haben. In diesem Jahr geht nun ein Preis an ein Werk, das zu einem wesentlichen Teil aus Zeichnungen besteht. Die Kategorien öffnen sich und der Blick wird weiter, bevor die «Neo-Literatur» eintritt, wie die Forscherin Magali Nachtergael die Zeit nennt, in der das lange vergötterte Buch zwischen Audio-Performances und digitalen Plattformen nur noch einer von vielen möglichen Textträgern sein wird.

Die geschriebene Literatur ist gegenüber diesen Boten der Modernität tatsächlich von radikaler Langsamkeit, denn sie ist gegenwärtig im primären Sinn des Wortes und glaubt weiterhin daran, dass wir diese Gegenwart vereint im stillen Lesen teilen können. Der eigene Rhythmus ist der beste Widerstand gegen die Beschleunigung der Zeit. Lesen und schreiben heisst der Welt mit Mut begegnen.

Thierry Raboud