Leta Semadeni

© BAK / Julien Chavaillaz

Leta Semadeni

Schweizer Grand Prix Literatur 2023

Leta Semadeni wurde 1944 in Scuol im Engadin geboren und studierte Sprach- und Literaturwissenschaften an der Universität Zürich. Sie war als Lehrerin tätig und arbeitete in Lateinamerika sowie in Paris, Berlin und New York. Seit 2005 lebt sie in Lavin.

Leta Semadeni schreibt vorwiegend Lyrik auf Romanisch oder Deutsch und überträgt ihre Texte selbst in die jeweils andere Sprache. Ihr erster Roman Tamangur wurde 2016 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

© BAK / Julien Chavaillaz

Mehrsprachiges Schreiben, Selbstübersetzung, übersetzt werden: Leta Semadenis Œuvre – Lyrik, Kurzprosa, Romane und Kinderbücher umfassend – entsteht und besteht im Echoraum verschiedener Sprachen. Ihre in sechs Lyrikbänden versammelten Gedichte erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien aller Sprachregionen der Schweiz, in Deutschland, England, Spanien, Tschechien und Litauen. Entstanden sind fast alle in zwei Sprachversionen, auf Rätoromanisch und Deutsch. Dabei handelt es sich nicht um Übertragungen: Es sind autonome Sprachschöpfungen, die im dialogischen Wechselspiel komponiert werden und auf je eigene poetische Stil- und Spielmittel der beiden Sprachen zurückgreifen. Die poetische Kraft liegt nicht nur im einzelnen Text, sondern auch in der Spannung zwischen den Fassungen. Dank Übersetzungen ins Französische, Italienische, Englische, Albanische oder Isländische erweitert sich dieser poetische Bedeutungsraum zu einem weiten Experimentierfeld des literarischen Ausdrucks: Sprachhürden, Unsagbares und Grenzen der Übersetzbarkeit werden als dichterische Mittel ausgelotet.

Was das Werk der Engadiner Schriftstellerin über die verschiedenen Genres verbindet, ist die Präsenz und Bedeutung von Tieren. «Adüna darcheu / aintran / luotin / bes-chas / aint in meis destin», «Immer wieder / schleicht ein Tier / durch meine Texte», lesen wir im Gedicht Bes-chas / Tiere. In vielen Gedichten sind Tiere Dreh- und Angelpunkt, manchmal sind sie konkretes Gegenüber, mal Fabelwesen. Sie erscheinen in Träumen, verdichten Gedanken und Gefühle. Aus intensiver Auseinandersetzung mit Tieren entsteht eine tiefe Identifikation, der Wunsch nach seelischer Verschmelzung und sogar die tatsächliche oder imaginierte Metamorphose: «In meinem Leben als Fuchs / war ich alles und alles / war ich». Im Zwiegespräch mit Tieren drücken sich Suche und Sehnen nach einer ganzheitlichen Wesenhaftigkeit mit hellen Sinnen und feinem Gespür aus, der Wunsch, «immerfort» nur da zu sein, «wo die Pfote die Erde berührt». Gleichsam ein poetisches Programm: Achtsamkeit und Reduktion aufs Wesentliche sind Grundlagen des Dichtens wie auch mögliche Wirkung von Dichtung auf Lesende. Die sprachliche Konzentration und der rote Faden des Bestiariums verstetigen sich gleichfalls in Semadenis Kinderbüchern und in ihren auf Deutsch erschienenen Prosawerken Tamangur (2015) und Amur, grosser Fluss (2022). Tiere spielen in den Verstrickungen dieser collagenhaft komponierten Romane eine elementare Rolle. Mit Übersetzungen ins Französische, Italienische, Spanische, Tschechische, Englische und Russische findet auch ihre Prosa einen mehrsprachigen Echoraum.

Leta Semadeni gestaltet literarische Zwei- und Mehrsprachigkeit kreativ, produktiv und poetologisch bedeutungsvoll. Ihr genreübergreifendes Werk spricht mit zwei Kinderbüchern sowie einem mit dem Josef-Guggenmos-Preis für Kinderlyrik ausgezeichneten SJW-Band ein breitgefächertes Publikum an. Ihre vielgestaltige Schreibarbeit bereichert die rätoromanische, die deutschsprachige und die Schweizer Literatur.