Das Mögliche ist ungeheuer – mit Dürrenmatt also setzt das dritte Buch vom Flug ein, Sturz, Reto Hännys dichtestes, dickstes Buch, das gleichsam ein lebenslanges Werk ist.
Ein Leben, das in der Bergbauernwelt seinen Anfang nahm, wo der Miststock noch gezöpfelt wird, wo ein Knabe in den abendelangen Erzählungen des Grossvaters die Liebe zum Erzählten entdeckt.
Kleine Kiesel sind es, die dieses Erzählen ins Rollen bringen, das Klopfen eines Holzwurms etwa, oder aber Postkarten aus Amerika. Schubkraft geht von den grossmütterlichen Variationen der Familiengeschichte aus, vom Klang des schleppenden Harmoniums und dem rumpelnden Echo der Militärflugzeugstaffeln. Vor allem aber von den Büchern, die ein Lehrer seinem Schüler mitgibt, über die freien Tage um Pfingsten.
Und wie dieser Schüler später ins Tal, aber nicht zur Ruhe kommt, nimmt eine Literatur ihren Anfang, eine Echo-Kakophonie aus Erlebtem, Gelesenem, Ausgedachtem. Es werden Partituren der Pasticci, Palimpseste und Paraphrasen komponiert, es entsteht eine Sprache der Reminiszenzen und Referenzen – an James Joyce und Jean Paul – und alles geschieht stets auch auf der musikalischen Ebene des Textes, bis hinein in Syntax und Interpunktion. Hännys Zweitling Flug wird zu einem Versuch der Über- und Drübersicht, ein Text, der wieder und wieder überschrieben und übermalt werden sollte.
Reto Hännys Sprachkraft hat bleibende Breschen geschlagen, 1981 ins damals schon saturierte Zürich, und bereits 1994 schreibt Reto Hänny von «ungeahnten Verschiebungen, Ereignissen, für die es keine historischen Erfahrungen gibt, von Flutkatastrophen, Taifunen und Hungersnöten, die man in der Zeitung überlesen hat.» Reto Hänny ist zu einem Autor geworden, der den Miststock auseinandernimmt, nicht bloss hübsch zöpfelt.
Und nun also hat er Flug erneut überschrieben, sein Lebenswerk noch vielstimmiger komponiert, diese Segantini-Landschaften angereichert mit all dem, was sich über die Jahre massenhaft angesammelt hat. Am deutlichsten wird die Technik des sich immer noch genauer Erinnerns, wenn man Reto Hännys eigenes Exemplar in Augenschein nimmt: Es wird noch immer dicker, denn so mancher Absatz wurde überarbeitet, die langen Sätze noch präziser formuliert, die neuen Seiten eingeklebt. Man kann dieses ungeheure Werk fast nicht schliessen – und muss es lesen und immer wieder von Neuem lesen.