Schulhausroman
Der Spezialpreis Vermittlung 2023 des Bundesamts für Kultur würdigt ein dreifaches Engagement für das Buch: Autorinnen und Autoren, Lehrpersonen und Schulklassen kommen dank der 2005 von Richard Reich und Gerda Wurzenberger in der Deutschschweiz gegründeten Initiative Schulhausroman zusammen. Die Idee: Während rund sechs Monaten erarbeiten Schülerinnen und Schüler im Alter von 13 bis 15 Jahren unter der Anleitung von erfahrenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern als Schreibcoaches gemeinsam einen Roman, der als Heft erscheint und ausserhalb der Schule an einer öffentlichen Veranstaltung gelesen wird.
Das erfolgreiche Vorhaben stösst auch in der französischsprachigen Schweiz auf Interesse: Roman d’école entsteht 2009. Acht Jahre später kommen das Tessin und Graubünden dazu. Dank der Fantasie der Schweizer Schulklassen sind bis heute rund 200 Romane erschienen. Das Ziel ist es dabei nicht, die Bildschirme zu konkurrieren, die die Jugendlichen von den Büchern fernhalten, sondern diejenigen Schülerinnen und Schüler zu stärken, denen Lesen und Schreiben Schwierigkeiten bereitet.
Ungeübte sollen «sich die Hände schmutzig machen, um zu verstehen, wie es geht» – eine neue und wirksame Form der Kulturvermittlung. Anders gesagt: Die Schülerinnen und Schüler sollen das Bedürfnis verspüren, ihre Fragen und Ansichten zur Welt klar auszudrücken, indem sie die Sprache solange bearbeiten, bis sie ihre ganze Aussagekraft entfaltet. Dabei können sie ihre Ideen und Emotionen mit denen ihrer Kolleginnen und Kollegen vergleichen und lernen, ihren Standpunkt festzuhalten und ihre Absichten zu äussern.
Die Autorinnen und Autoren, die während mehrerer Monate eine Klasse begleitet haben, sind sich einig: Zusammen schreiben, heisst, sich den anderen zu öffnen und die eigene Geschichte – sei sie autobiografisch oder fiktiv – mit denjenigen zu vergleichen, die sich die Mitschülerinnen und Mitschüler ausgedacht haben, um das Verständnis von Inhalt und Form zu erweitern. Erst dann entsteht das gemeinsam konstruierte Werk, unter Anleitung der Schreibcoaches, die auf Kohärenz und Schlüssigkeit der Erzählung achten. Nach jedem Schritt stellt sich die Klasse Fragen, diskutiert, tastet sich weiter vorwärts und experimentiert. Es werden neue Ausdrücke eingeführt, der kollektive Roman drückt aktuelle Themen in der Sprache von heute aus.
In der Gruppe schreiben lassen, um zum individuellen Lesen anzuregen: Die Bedeutung des Schreibens und das Gewicht der Worte werden erkannt, weil diese gemeinsam ausgewählt wurden, und es wächst das Verständnis für das Erarbeiten einer eigenen Geschichte. Vor allem aber wird die Freude vermittelt, die aus der Beziehung zwischen Lesenden und Schreibenden entsteht, wenn die Stimme der einen in den Gedanken der anderen anklingt.