Paola De Martin

Swiss Grand Prix Design 24 Paola de Martin

Paola De Martin

Avanti guanti – Die neue Avantgarde ist bereit!

von Francesca Petrarca

Paola ist mir auf einem Foto begegnet, bevor ich wusste, wo sie steht. Ihre Blogs habe ich gelesen, bevor ich wusste, wie sie spricht. Als ich ihre Stimme dann im Radio gehört habe, war ich ergriffen von dem, was sie sagt.[1] Paola De Martin bewegt: sich, mich und andere. Sie ist eine «scholar activist», ihr Werdegang ein Muster für sich. Ihre Praxis ist verknüpfende aktivistische Designforschung, welche die verschwiegenen Zusammenhänge von Ästhetik, Gesellschaft und Klasse untersucht. Vom Schweigen hat sie sich in zahlreichen Publikationen verabschiedet. In friedlichen Aktionen findet sie passende Formen für ihren Protest. Den aufgeladenen sozialen Kontexten der Gegenwart begegnet sie mit symbolischer Abrüstung. Immer neugierig, niemals allein.

Da ist stets diese Masche, die alles verbindet. Paolas Arbeitsweise ist von Literatur, Kunst und Design geprägt, sie verbindet Geschichte und Soziologie mit Gestaltung, ist anderen Menschen zugewandt: eine ineinanderfliessende Metamorphose, die in Gegenständen, Performances, Lectures, Briefen, Fotos, Musik, Hörspielen, Essays, Artikeln mündet. In ihrer Lehre an Hochschulen für Gestaltung und als Postdoc an der ETH erfährt Paola grossen Zulauf von Studierenden. Sie lehrt, über Ausgrenzungen zu reflektieren und ermutigt, sich intersektional mit der sozialen Herkunft und mit Privilegien zu beschäftigen. Als Dozentin mit «impact» ist ihre Reflexion über Normen, Regeln, Strukturen eine wegweisende Auseinandersetzung für andere. Sie setzt kritische Akzente und gibt Impulse an die junge Designgeneration weiter. Der mündliche Ausdruck befruchtet das verschriftlichte Nachdenken und umgekehrt. Aus der «Einsamkeit der Langstreckenläuferin» wuchs, dank der Zusammenarbeit mit dem Kollektiv vom Schwarzenbach-Komplex, ein freundschaftliches Gewebe. Das öffentliche Interesse an der Aufarbeitung der Schweizer Familienpolitik im Namen des von ihr initiierten Vereins TESORO ist gross. Paola schlägt die gesellschaftlichen Fäden auf ihren Zaubernadeln an, in ihren Händen werden die Maschen neu verknüpft.

Wenn das Private politisch ist, wie die frühen Feministinnen sagten, dann stellt Paola die Frage ins Zentrum: Wie politisch ist Ästhetik? Paola hat mir selbstgestrickte Handschuhe geschenkt, mit einem aufwändigen Muster, in grün und rosa. Durch das Stricken kann sie ihre Gedanken ordnen, kann innere Kraft schöpfen, wenn es draussen kalt und zynisch ist. Der konstruktive Widerstand ist tief in ihr verwurzelt. Eine Erinnerung aus Paolas Primarschulzeit in Zürich-Affoltern: die Handarbeitslehrerin verbietet der jungen Paola das Stricken auf «italienische» Art, denn die sei nicht so, wie diejenige, welche die Lehrerin ausführe und überhaupt, wenn Paola einen «italienischen» Fehler mache, so könne sie ihr nicht helfen. Doch zum Glück hat Paola, zuerst heimlich, beide Techniken miteinander verknüpft und das Verknüpfen später zu ihrem Leitmotiv gemacht.

Durch die Doktorarbeit «Give us a break! Arbeitermilieu und Designszene im Aufbruch» (Diaphanes, 2020) hat sich Paolas Zunge langsam wie ein Teppich ausgerollt: Die gefundene Sprache hat Platz geschaffen, die bislang ungehörten Geschichten zu artikulieren. Paola beschäftigt sich mit dem Gefühl von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zum Zürcher Designfeld, wo sie in den 1990er-Jahren als Textilstudentin und später als Mitbegründerin des Modelabels Beige tätig war. Ausgangspunkt sind Erfahrungen, die sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft aus einer bildungssystemfernen, migrantischen Arbeiterfamilie machte. Am Ende hat sie die historischen Verzerrungen im Design, die sie einst orientierungslos machten, aufgespürt. Das Nicht-Gesagte, das wie ein «Elefant» im Raum steht und von den «Erben des kulturellen Kapitals» ignoriert wird, hat Paola präzise angeschaut. Sie selbst exponiert sich als Forscherin, geht selbstreflektiert mit ihren eigenen Verstrickungen, ihren Diskriminierungen und Privilegien um. Paola greift sowohl auf Theorie als auch auf autobiografische Literatur zurück und fügt alles zu einem dichten Beziehungsgewebe zusammen. Die Arbeit beleuchtet das System, in dem wir als Designschaffende drin sind. Sie ist eine manifeste Kritik an den bestehenden Strukturen, die Menschen mit unterprivilegierter Klassenherkunft reflexartig aus dem Feld ausschliessen, sie schubladisieren und andere bevorzugen und weitertragen.

[1] Belege: Mali Lazell, Julia Haenni: ICH WILL ALLES! Streikporträts, edition clandestin 2021, o. S.; «Brennende Unschärfe – Offener Brief an Bundesrätin Simonetta Sommaruga», Institut Neue Schweiz INES, Blog, 21.9.2018; «Per arrivare bisogna partire», Institut Neue Schweiz INES, Blog, 4.11.2019; «Saisonnierstatut: Das war ein Attentat auf die Familien» (SRF 2 Kultur, « Kontext », 7.12.2021).

Die Strophen dieses Manifests sind wie die farbigen Fäden meiner Handschuhe. Der Protest im Weiterstricken, trotz Mahnung der Lehrerin, es doch gefälligst «richtig» zu machen. Der Protest der Eltern, das Kleinkind Paola, trotz Landesverweis der Fremdenpolizei, zurück in die Schweiz zu holen. Der Protest des Nicht-mehr-Schweigens. Die Faust, die sich im Kampf um Gerechtigkeit langsam öffnet: Es fängt mit einer «falschen» Masche an und formiert sich zu einem widerständigen Handschuh, der seinesgleichen sucht. Vorwärts gehen sie, unsere Erinnerungen, Hand in Hand: Meine nonna zeigte mir einst ihre aufwändigen, selbstgehäkelten Handschuhe, elegante guanti, die sie zum Spazieren in Italien und später in der Schweiz trug. Leider sind sie verloren gegangen. Der Verlust wiegt schwerer als man denken könnte. Er hallt im weitervererbten Gefühl des Verlusts meiner nonna wider, die in der Schweiz nicht mit ihrem Kind, meiner Mutter, zusammenleben durfte. Paolas Handschuhe beginnen, diese Wunde zu heilen. Aus meinen «bestrickten» Händen wird ein Zauberlied, aus den Maschenreihen ein in den Bann ziehender Refrain. Dieser magische Rhythmus setzt Energie frei, wird ein Fluss, der vorwärts strömt.

Es ist kein Zufall, dass eine Designerin mit «Migrationsvorsprung» die Frage stellt: Wie politisch ist Ästhetik? Paola öffnet einen Reflexionsraum, wo vorher keiner war, lädt uns ein, über Klassismus und andere Diskriminierungsformen in unserer Kultur nachzudenken. Sie wagt einen mutigen Schritt vom «Ich» zum «Wir», wenn sie betont: «Wir können nichts dafür, in welche Klasse wir hineingeboren werden, aber wir können die ästhetischen Urteile und Reflexe, die aus diesem Zufall heraus entstehen, verstehen, vermitteln – und, wenn wir wollen, sogar verändern.» Avanti guanti – Die neue Avantgarde ist bereit!

Francesca Petrarca studierte Kunstgeschichte, Medienwissenschaften, Visuelle Kommunikation sowie Bildforschung in Basel und arbeitet als selbstständige Buchgestalterin. Ihr Buch No grazie, non fumo ist ein literarisches und gestalterisches Porträt der Migrationsgeschichte ihrer Grossmutter und erscheint 2024 in der 2. Auflage im Verlag edition clandestin.