Luciano Rigolini

Swiss Grand Prix Design 24 Luciano Rigonlini

Luciano Rigolini

Das Bild hinterfragen

von Marco Franciolli

Die künstlerische Tätigkeit von Luciano Rigolini ist vielstimmig und umfasst die Fotografie, die Realisierung von Künstlerbüchern und die Produktion von dokumentarischen Autorenfilmen. Ein roter

Faden zieht sich durch diese verschiedenen Ausdrucksformen, die sich ineinander verweben, sich gegenseitig bereichern und dabei auf originelle Weise ontologisch den Status des zeitgenössischen Bildes analysieren und dessen Beziehung zur Realität vertieft untersuchen. Die Relevanz seiner intensiven künstlerischen Tätigkeit, die inzwischen mehr als dreissig Jahre dauert, wird durch zahlreiche Preise und Auszeichnungen im Fotografie- und Filmbereich auf nationaler und internationaler Ebene bestätigt.

Rigolinis fotografisches Schaffen beginnt 1990 mit dem Zyklus Paesaggi urbani, dessen grossformatige Schwarz-Weiss-Bilder den Stadtraum aus einem eigenwilligen Blickwinkel zeigen, in dem die traditionelle perspektivische Sicht zugunsten einer geometrischen Komposition aufgegeben wird, die an die Stilmittel der konstruktivistischen Collage erinnert. Die kompositorische Zerteilung entsteht in diesen Bildern einzig aus der Wahl des Blickpunktes heraus, ohne jeglichen Eingriff in das Negativ oder den Druck. Die Serie Paesaggi urbani verfolgt Rigolini bis 2002 weiter, während er gleichzeitig einen kreativen Prozess durchläuft, der ihn dazu führt, immer mehr auf den physischen Akt des Fotografierens zu verzichten und stattdessen auf anonyme Aufnahmen zurückzugreifen. Der Künstler legt einen unerschöpflichen Bilderbestand an, indem er sich von anderen in unterschiedlichen Absichten und zu verschiedenen Zwecken geschaffene Fotografien aneignet, um sie nach seinem ästhetischen und konzeptuellen Programm zu überarbeiten und so zu seinen eigenen Werken zu machen. Ausgangspunkt für diese neue Schaffensrichtung ist eine Sammlung

von Fotografien, die Rigolini während zehn Jahren zusammengestellt hat, um daraus sein Werk What you see entstehen zu lassen, das er 2008 an einer Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur zeigte. Unter dem gleichen Titel verwirklicht er auch das erste seiner Bücher, die als eigenständige Kunstwerke zu verstehen sind. Parallel zu den fotografischen Zyklen schafft Rigolini seither regelmässig Künstlerbücher, in denen der stark konzeptuelle Charakter, der seiner gesamten künstlerischen Arbeit zugrunde liegt, besonders deutlich wird. Die Auswahl der Bilder, deren Abfolge und die grafische Komposition prägen ein neuartiges und eigenständiges Erzählen, das die ursprüngliche Bedeutung der Abbildungen hinter sich lässt. Im starken Drang zum Suchen und Sammeln von fotografischen Bildern in Archiven oder auch im Web zeigt sich ein grundlegendes Element von Rigolinis ästhetischem Diskurs: die Obsession für das Bild. Es sind dabei vor allem Fotografien aus Archiven des Maschinenbaus und der Automobilindustrie, die das Interesse des Künstlers wecken.

Die zwanzigjährige Erfahrung – seit 1995 – von Luciano Rigolini als Produzent von dokumentarischen Autorenfilmen für den französisch-deutschen Fernsehsender ARTE mit Sitz in Paris hat seine persönliche Forschung über den Status des Bildes zweifellos erweitert und bereichert. Die von ihm entworfene und geleitete Sendung «La Lucarne» bot dem experimentellen und unabhängigen Autorenfilm einen wichtigen Freiraum. In Rigolinis Jahren bei ARTE verfolgte er mit seiner Filmauswahl die Absicht, die Kunst in das Medium Fernsehen zu bringen. Daraus entwickelte er erfolgreiche Zusammenarbeiten mit den prägendsten Künstlerinnen und Künstlern, Regisseurinnen und Regisseuren der internationalen Filmszene. In seiner Tätigkeit als Dokumentarfilmemacher hatte Luciano Rigolini auch die Gelegenheit, sich mit den grundlegenden Fragen der ambivalenten Beziehung des Bildes zur Realität zu befassen – eine Auseinandersetzung, die in der Entwicklung seines fotografischen Schaffens und in seinen Büchern klar zu erkennen ist. Ein Beispiel dafür ist der Zyklus, den er Aufnahmen vom Mond aus dem NASA-Archiv zu den Apollo-Missionen 15 und 16 gewidmet hat. Rigolini vereint auf innovative Weise seine Leidenschaft für die Kunst- und Fotografiegeschichte mit den technischen Möglichkeiten des Digitaldrucks, um – ausgehend von wissenschaftlichen Aufnahmen, die ohne jeglichen ästhetischen Anspruch entstanden sind – neue Bilder zu erschaffen, mehrdeutige Werke auf der Schwebe zwischen malerischer und fotografischer Ästhetik. Der Künstler richtet dabei seine Aufmerksamkeit auf die Eigenschaft solcher Fotografien, unübliche Lesarten hervorzurufen. Es überrascht daher nicht, dass er sich auch für Aufnahmen von UFOs interessiert, von Flugobjekten, deren Abbildung einzig durch den Zweifel begründet ist. Die Drucke von analogen Aufnahmen aus einem Archiv für Ufologie überträgt der Künstler auf einen digitalen Bildträger und druckt sie grossformatig aus. Das Format verändert die Eigenschaft des Bildes und produziert so eine «Mise en abyme» des dargestellten Gegenstandes. Die Bilder erschienen 2022 im Band Inexcplicata Volantes beim japanischen Verlag Akio Nagasawa.

In seiner jüngsten Schaffensphase beginnt Luciano Rigolini wiederum einen neuen kreativen Prozess mit Bildern, die mithilfe von Algorithmen der künstlichen Intelligenz generiert werden. Nachdem Rigolini aufgehört hat, eigene Bilder aufzunehmen, verzichtet er nun auch auf das Verwenden von anonymen Fotografien, um sich Bildern zu widmen, die anhand detaillierter Angaben des Künstlers von der künstlichen Intelligenz geliefert werden. In einem Zyklus von Bildern, die wie Aufnahmen von stillgelegten Industriebauten wirken, wird die immer durchlässiger werdende Grenze zwischen Malerei und Fotografie in Rigolinis Schaffen weiter aufgelöst. Durch die virtuelle Ausarbeitung von Formen, Farben und Strukturen bekräftigt der Künstler in aller Deutlichkeit, dass ein fotografisches Bild die Realität immer nur scheinbar wiedergibt.

Marco Franciolli kuratiert seit 1989 Ausstellungen und Publikationen zu Themen der modernen und zeitgenössischen Kunst, Fotografie und Architektur. Er war Direktor und Konservator des Museo Cantonale d’arte und der erste Direktor des Museo d’arte della Svizzera italiana MASI im Kulturzentrum LAC in Lugano. Seit 2018 ist er freischaffend als Kurator und Kunstkritiker tätig.