Jean Widmer

Video: Gina Folly
Schnitt: Miriam Leonardi
Musik: Erik Satie Gymnopedie No 1 von Kevin MacLeod|CC by 3.0
 

Jean Widmer, 1929

Grafikdesigner und Art Director, Paris

Jean Wid­mer (ge­bo­ren 1929) ist Gra­fik­de­si­gner und lebt in Paris. Er stu­dier­te bei Jo­han­nes Itten an der Kunst­ge­wer­be­schu­le in Zü­rich. Kurz nach sei­nem Ab­schluss zog es ihn nach Paris, wo er zu­sam­men mit wei­te­ren Schwei­zer De­sign­schaf­fen­den das fran­zö­si­sche Gra­fik­de­sign der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts nach­hal­tig be­ein­flusst hat. Unter an­de­rem war Wid­mer als künst­le­ri­scher Lei­ter der Ga­le­ries Laf­ay­et­te und des Mo­de­ma­ga­zins Jar­din des Modes tätig; bei bei­den re­vo­lu­tio­nier­te er die gra­fi­sche Aus­rich­tung. Spä­ter schuf er auch mit sei­nen Pla­ka­ten für das Cent­re de Créa­ti­on In­dus­tri­el­le einen un­ver­gleich­li­chen Stil, der in der Krea­ti­on des Logos für das Cent­re Pom­pi­dou und in sei­nem be­deut­sa­men Werk für die tou­ris­ti­sche Aus­schil­de­rung ent­lang der fran­zö­si­schen Au­to­bah­nen kul­mi­nier­te.
Mit dem Schwei­zer Grand Prix De­sign 2017 wür­digt die Eid­ge­nos­sen­schaft die fun­da­men­ta­le Re­le­vanz von Wid­mers Werk und Lauf­bahn, sei­nen be­deu­ten­den Bei­trag zur De­si­gnaus­bil­dung in Frank­reich und seine Rolle als Weg­be­rei­ter für eine gan­zen Ge­ne­ra­ti­on Schwei­zer De­sign­schaf­fen­der, die das eu­ro­päi­sche Gra­fik­de­sign des 20. Jahr­hun­derts ent­schei­dend ge­prägt haben.

Essay

Die Wirklichkeit oder die Farbe der Zitrone

Im Jahr 1946 be­gann Hans Wid­mer sein Stu­di­um an der Kunst­ge­wer­be­schu­le in Zürich, die da­mals vom gros­sen Lehr­meis­ter des Bau­hau­ses und Begründer der Far­ben­ty­pen­leh­re Jo­han­nes Itten ge­lei­tet wurde. Der Zu­sam­men­hang zwi­schen Funk­tio­na­lis­mus und Kunst, zwi­schen Kunst und an­ge­wand­ter Kunst; die Un­ter­schei­dung zwi­schen Künst­lern, Hand­wer­kern und De­si­gnern sowie die Wech­sel­be­zie­hun­gen zur In­dus­trie und Mas­sen­pro­duk­ti­on wur­den in jener Zeit kon­tro­vers dis­ku­tiert. Die Ge­schich­te nimmt ihren Lauf.
Nach sei­nem Auf­bruch nach Paris, «um Künst­ler zu wer­den»,(1) ent­wi­ckel­te sich der junge Wid­mer stets wei­ter und wurde schliess­lich «Gra­fik­de­si­gner». Frank­reich war da­mals noch in der Phase der «Äs­the­tik des In­dus­trie­de­signs», in Zürich war je­doch be­reits klar: Kunst und De­sign sind nicht iden­tisch, kön­nen aber eine Ein­heit bil­den, je nach Mo­ment oder Auf­trag, die sie sich zu­spre­chen oder die ihnen zu­ge­spro­chen wer­den.

Hans wird zu Jean, be­hält je­doch die Hel­ve­ti­ca
Trotz eines noch so fa­bel­haf­ten Erbes und einer noch so un­ver­gleich­li­chen Bil­dung bleibt man ein Esel, wenn Ta­lent, In­tel­li­genz, Anmut und ein of­fe­nes Ohr feh­len. Jean Wid­mer zi­tiert gerne eine Ma­xi­me sei­nes Va­ters : «Los­le­gen und selbst an­pa­cken.» Sie ver­lei­tet zum Han­deln und er­in­nert daran, dass auch Klei­nes die Welt grös­ser ma­chen kann und des­halb nie­mals ver­nach­läs­sigt wer­den soll­te. Schau­fens­ter ge­stal­ten, Bon­bon­ver­pa­ckun­gen und gol­de­ne Wap­pen für «La Mar­qui­se de Sé­vi­gné» ent­wer­fen - dies waren Jean Wid­mers erste Schrit­te auf sei­nem lan­gem Weg. Dank sei­ner Gast­freund­lich­keit und sei­nem Humor ver­traut er dar­auf, dass jeder Mensch etwas zum gros­sen Gan­zen bei­tra­gen kann. Er pflegt die Kunst der Be­geg­nung. We­ni­ge Kunst­schaf­fen­de waren in der Lage, so viele Ta­len­te und Verbündete um sich zu scha­ren. In Fred Schne­cken­bur­ger, Ma­rio­net­ten­spie­ler, Re­gis­seur und pas­sio­nier­ter Pla­kat­samm­ler, fand er sei­nen Men­tor : «Ich war mir be­wusst, dass ich durch ihn eine zwei­te Bil­dung er­hielt. Er war mein Vor­den­ker. » Ein wei­te­rer mass­ge­ben­der Freund war Peter Knapp, zwei­mal trat Wid­mer seine Nach­fol­ge an. Jeans Wer­de­gang er­hielt auch neue Im­pul­se in New York, wo er Fo­to­gra­fie und Er­zähl­kon­zep­te bei Alexy Bro­do­witch stu­dier­te. Er ver­moch­te so die ver­schie­de­nen Ele­men­te einer krea­ti­ven Syn­the­se zu bündeln ; bei­spiels­wei­se be­ob­ach­te­te er, dass jede Me­tro­sta­ti­on in Me­xi­ko ein ei­ge­nes Sym­bol hat, um auch An­alpha­be­ten lot­sen zu kön­nen. Er er­in­ner­te sich wie­der an diese Ge­ge­ben­heit, als er sein Kon­zept für die fran­zö­si­schen Au­to­bah­nen er­ar­bei­te­te. Die­je­ni­gen, die mit Jean zu­sam­men­ge­ar­bei­tet haben, wis­sen seine Wach­sam­keit zu schät­zen. «Sie sind ‹verrückt›, aber auf vergnügte Weise!» schrieb ihm Do­mi­ni­que Bozo, Margo Rouard be­merk­te sei­nen «leb­haf­ten Blick und die ge­dul­di­gen Ges­ten» und ich selbst lobte seine «sanf­te Stur­heit». Es ge­fiel mir, als er sagte: «Die Mi­schung aus einer ge­sun­den Schwei­zer Bil­dung und der fran­zö­si­schen Leich­tig­keit hat mich beflügelt.» Es ist denn auch diese Mi­schung, die den Ge­schmack ver­stärkt und einen Grund­ton wahr­neh­men lässt. Sie bie­tet genau dort eine Aus­zeit, wo der Zeit­geist und die Fan­ta­sie der Regel ein Spiel geben. Für Itten ging Zi­tro­nen­gelb durch den Magen und vor dem Stu­di­um und der Be­schrei­bung die­ser Farbe bat er seine Schüle­rin­nen und Schüler, eine Zi­tro­ne zu essen. So soll­te es mit jeder Re­fle­xi­on über die Wirk­lich­keit sein: Wo hin­durch
geht sie und wel­ches ist ihre Farbe?(2)

Der Bil­der­öko­lo­ge
Von 1955 bis 1969 war Wid­mers Weg pro­pä­deu­tisch. Zu­sam­men mit Jac­ques de Pin­dray, der ihm die künst­le­ri­sche Lei­tung der Agen­tur über­trug, steck­te er sein Ter­ri­to­ri­um ab, be­geis­ter­te sich für die Fo­to­gra­fie von be­weg­ten Kör­pern, schuf für Kor­ri­gan sein ers­tes Logo, ent­deck­te auf­stre­ben­de Ta­len­te. Als er für die Ga­le­ries Laf­ay­et­te ar­bei­te­te, woll­te er «den Pa­ri­ser Tem­pel von den un­aus­weich­li­chen Waren be­frei­en», die Wer­bung für Ob­jekt und Preis ab­schaf­fen, die Idee einer Samm­lung mit «at­mo­sphä­ri­schen Bil­dern» einführen. Viele die­ser schö­nen Ideen blie­ben je­doch in der Schub­la­de, weil sie lei­der «nicht den
Kun­den­wünschen ent­spra­chen». Mehr Frei­heit kam mit Le Jar­din des Modes. Das un­spek­ta­ku­lä­re Heft mit Strick­an­lei­tun­gen wurde unter Wid­mers Lei­tung zur spie­le­risch mo­der­nen Frau­en­zeit­schrift, die mit viel Geist zu in­for­mie­ren und über­ra­schen ver­moch­te. Wid­mer wirk­te selbst als Fo­to­graf und en­ga­gier­te Ta­len­te. Ab 1960 kon­zi­pier­te er auf An­fra­ge von Jac­ques Adnet, Di­rek­tor der De­sign­schu­le ENSAD, einen Stu­di­en­gang in Gra­fik­de­sign. Bis 1996 trieb er die­ses Pro­jekt immer wei­ter voran, de­fi­nier­te einen ge­mein­sa­men Nen­ner und ver­pflich­te­te ein Team ( dar­un­ter ein wah­res Schwei­zer Ba­tail­lon ), das alle Be­rei­che des Gra­fik­de­signs ab­deck­te. Sein Stu­di­en­gang wurde schliess­lich zum «De­par­te­ment für vi­su­el­le Kom­mu­ni­ka­ti­on». Auf diese Weise schaff­te er es, die Regel mit dem Spiel und den ob­jek­ti­ven Schul­un­ter­richt mit sei­nem ei­ge­nen Schaf­fen in sei­ner Agen­tur zu ver­ei­nen.
Man möge mir ver­zei­hen, dass ich hier einen per­sön­li­chen Ton an­schla­ge. Im Ok­to­ber 1969 wurde im Musée des Arts dé­co­ra­tifs das Cent­re de Créa­ti­on In­dus­tri­el­le (CCI) er­öff­net, des­sen Gründung ich François Ma­they an­ver­traut hatte. Ich kann­te Jean und be­wun­der­te seine Ar­beit schon da­mals. Im Juni 1969 be­auf­trag­te ich ihn, zu­sam­men mit sei­nen Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten 21 Pla­ka­te für das CCI zu ent­wer­fen. Letzt­end­lich hat er alles al­lei­ne und in Re­kord­zeit ge­schafft; die Stu­die­ren­den waren in den Fe­ri­en. Es war das schöns­te Ge­schenk, das ich je er­hal­ten habe. Die mi­ni­ma­lis­ti­sche gra­fi­sche Ge­stal­tung prä­sen­tiert nicht das aus­ge­stell­te Ob­jekt. Was wahr­ge­nom­men wird, ist eine glo­ba­le Iden­ti­tät, eine Fa­mi­lie, ein fühl­ba­res men­ta­les Er­leb­nis. Ich bin zwei­fels­oh­ne nicht sehr ob­jek­tiv, wenn ich dies sage, aber mei­ner Mei­nung nach sind diese Pla­ka­te ein Mei­len­stein in der Ge­schich­te des Gra­fik­de­signs. Von die­sem Zeit­punkt an folg­ten sich meis­ter­haf­te Werke Schlag auf Schlag. Auch der Ar­chi­tekt der So­cié­tés d'Au­to­rou­tes sah die Pla­ka­te des CCI und kon­tak­tier­te Jean. So­for­ti­ge Ant­wort, aber ge­dul­di­ge Ar­beit in Bezug auf die Form, um schliess­lich zum We­sent­li­chen zu ge­lan­gen; zur völ­li­gen Be­rei­ni­gung, zum Pik­to­gramm. Ein uni­ver­sel­les Mo­dell. 1974 schlos­sen sich Wid­mer und Hie­stand zu­sam­men und ge­wan­nen den in­ter­na­tio­na­len Wett­be­werb für die Krea­ti­on des Logos und der Si­gnaletik für das Cent­re Pom­pi­dou. Das her­aus­ra­gen­de Re­sul­tat bringt die Ge­samt­heit der Fak­to­ren in Ein­klang und berück­sich­tigt so­wohl die un­ter­schied­li­chen De­par­te­men­te (Farb­code), den Strom der Be­su­chen­den und die räum­li­che Ori­en­tie­rung (ur­sprüng­li­che Ty­po­gra­fie von Adri­an Fru­ti­ger; die ver­ti­ka­le Aus­rich­tung der Schil­der nimmt Bezug auf die räum­li­che Auf­tei­lung und er­mög­licht einen bes­se­ren Fluss - lei­der wurde diese ver­ti­ka­le Schrift nie­mals wirk­lich re­spek­tiert). Jean Wid­mers gross­ar­ti­ges Logo, das die Ar­chi­tek­tur des Ge­bäu­des auf pu­ris­ti­sche Art und Weise würdigt, wurde welt­be­rühmt. Im Jahr 2000 mein­te oder be­fand der neue Prä­si­dent des Cent­re Pom­pi­dou, dass er mit einem neuen Logo die Nach­welt nach­hal­tig prä­gen würde. Pe­ti­tio­nen und Pro­tes­te waren die Folge, die Be­dro­hung konn­te ab­ge­wen­det wer­den. Das Musée d'Orsay, die Ga­le­rie na­tio­na­le du Jeu de Paume, das In­sti­tut der Ara­bi­schen Welt, die fran­zö­si­sche Na­tio­nal­bi­blio­thek, das staat­li­che fran­zö­si­sche Na­tur­kun­de­mu­se­um, die Stadt Ber­lin und wei­te­re nam­haf­te In­sti­tu­tio­nen voll­enden diese Er­folgs­bi­lanz. Jean Wid­mer schreibt Ge­schich­te.
Die Ge­mein­nützig­keit er­wei­ter­te sein Tä­tig­keits­feld: «Die Be­zie­hun­gen zu einem aus­schliess­lich wirt­schaft­li­chen Uni­ver­sum in­ter­es­sie­ren mich nicht.» Das Bild soll dau­er­haft sein und auf die Kon­sis­tenz, nicht auf die Er­schei­nung aus­ge­rich­tet sein. Es soll eine Ein­heit aus Spra­che und Iden­ti­tät sein. Und es soll eine Ver­bin­dung sein, die Sinn und Sinn­lich­keit, prak­ti­sche An­wen­dung und Wirt­schaft­lich­keit, Zeit und Raum in sich trägt. Es soll über­trag­bar und für jeden zu­gäng­lich sein. Text und Bild ver­ei­nen sich in einem er­folg­rei­chen Kon­zept auf der Grund­la­ge von Re­cher­chen und Zeich­nun­gen. Man muss der Zeit Zeit geben, um zur «Form der Ein­fach­heit» zu ge­lan­gen. We­ni­ger ist mehr. Den Auf­trag­ge­ben­den sol­che Fris­ten und sol­che Aus­zei­ten auf­zu­er­le­gen, um schliess­lich das idea­le Re­sul­tat zu er­rei­chen, be­nö­tigt viel En­er­gie. Oft fra­gen die Gra­fik­schaf­fen­den die Kun­den ein­fach, was sie möch­ten. Jean Wid­mer sagt hin­ge­gen: «Diese Frage will ich gar nicht erst hören.»

Wäh­rend sei­nes gan­zen Wer­de­gangs hat Jean Wid­mer Werke ent­wor­fen, die Sinn ma­chen, der Ver­nunft fol­gen sowie eine Äs­the­tik und ein künst­le­ri­sches Ge­schick ver­mit­teln, die nie­mals nur de­ko­ra­tiv sind, son­dern in­du­ziert wer­den. Er schöpf­te aus den Quel­len des Bau­hau­ses und De Sti­jls sei­nen ei­ge­nen Aus­druck und hat nie­mals auf­ge­hört, in sei­nen For­men und Far­ben eine neue Kunst­form zu zeich­nen und zu ent­wi­ckeln. Aus­ge­hend von Skiz­zen be­schäf­tigt er sich heute mit der drit­ten Di­men­si­on und kre­iert Skulp­tu­ren, die den Raum ein­fan­gen und ihm Form ver­lei­hen. De­si­gner, Gra­fi­ker, Künst­ler; Jean Wid­mer, voll und ganz.
François Barré
Über­set­zung: De­ni­se Hofer, BAK

(1) So­fern nichts an­de­res an­ge­ge­ben ist, stam­men die Zi­ta­te aus einem Ge­spräch, das Jean Wid­mer mit Margo Rouard geführt hat und das in Jean Wid­mer, gra­phis­te, un éco­lo­gis­te de l‘image, 1995, ver­öf­fent­licht wurde. Das In­ter­view fand an­läss­lich der Aus­stel­lung zu Jean Wid­mers Werk im Cent­re Pom­pi­dou statt.
(2) Auf dem von Jean Wid­mer ent­wor­fe­nen Pla­kat für die Aus­stel­lung Cou­leur im CCI, 1975, ist «Gelb» in vio­let­ter, «Oran­ge»
in blau­er und «Vio­lett» in gel­ber Farbe ge­schrie­ben.