Essay
Die Wirklichkeit oder die Farbe der Zitrone
Im Jahr 1946 begann Hans Widmer sein Studium an der Kunstgewerbeschule in Zürich, die damals vom grossen Lehrmeister des Bauhauses und Begründer der Farbentypenlehre Johannes Itten geleitet wurde. Der Zusammenhang zwischen Funktionalismus und Kunst, zwischen Kunst und angewandter Kunst; die Unterscheidung zwischen Künstlern, Handwerkern und Designern sowie die Wechselbeziehungen zur Industrie und Massenproduktion wurden in jener Zeit kontrovers diskutiert. Die Geschichte nimmt ihren Lauf.
Nach seinem Aufbruch nach Paris, «um Künstler zu werden»,(1) entwickelte sich der junge Widmer stets weiter und wurde schliesslich «Grafikdesigner». Frankreich war damals noch in der Phase der «Ästhetik des Industriedesigns», in Zürich war jedoch bereits klar: Kunst und Design sind nicht identisch, können aber eine Einheit bilden, je nach Moment oder Auftrag, die sie sich zusprechen oder die ihnen zugesprochen werden.
Hans wird zu Jean, behält jedoch die Helvetica
Trotz eines noch so fabelhaften Erbes und einer noch so unvergleichlichen Bildung bleibt man ein Esel, wenn Talent, Intelligenz, Anmut und ein offenes Ohr fehlen. Jean Widmer zitiert gerne eine Maxime seines Vaters : «Loslegen und selbst anpacken.» Sie verleitet zum Handeln und erinnert daran, dass auch Kleines die Welt grösser machen kann und deshalb niemals vernachlässigt werden sollte. Schaufenster gestalten, Bonbonverpackungen und goldene Wappen für «La Marquise de Sévigné» entwerfen - dies waren Jean Widmers erste Schritte auf seinem langem Weg. Dank seiner Gastfreundlichkeit und seinem Humor vertraut er darauf, dass jeder Mensch etwas zum grossen Ganzen beitragen kann. Er pflegt die Kunst der Begegnung. Wenige Kunstschaffende waren in der Lage, so viele Talente und Verbündete um sich zu scharen. In Fred Schneckenburger, Marionettenspieler, Regisseur und passionierter Plakatsammler, fand er seinen Mentor : «Ich war mir bewusst, dass ich durch ihn eine zweite Bildung erhielt. Er war mein Vordenker. » Ein weiterer massgebender Freund war Peter Knapp, zweimal trat Widmer seine Nachfolge an. Jeans Werdegang erhielt auch neue Impulse in New York, wo er Fotografie und Erzählkonzepte bei Alexy Brodowitch studierte. Er vermochte so die verschiedenen Elemente einer kreativen Synthese zu bündeln ; beispielsweise beobachtete er, dass jede Metrostation in Mexiko ein eigenes Symbol hat, um auch Analphabeten lotsen zu können. Er erinnerte sich wieder an diese Gegebenheit, als er sein Konzept für die französischen Autobahnen erarbeitete. Diejenigen, die mit Jean zusammengearbeitet haben, wissen seine Wachsamkeit zu schätzen. «Sie sind ‹verrückt›, aber auf vergnügte Weise!» schrieb ihm Dominique Bozo, Margo Rouard bemerkte seinen «lebhaften Blick und die geduldigen Gesten» und ich selbst lobte seine «sanfte Sturheit». Es gefiel mir, als er sagte: «Die Mischung aus einer gesunden Schweizer Bildung und der französischen Leichtigkeit hat mich beflügelt.» Es ist denn auch diese Mischung, die den Geschmack verstärkt und einen Grundton wahrnehmen lässt. Sie bietet genau dort eine Auszeit, wo der Zeitgeist und die Fantasie der Regel ein Spiel geben. Für Itten ging Zitronengelb durch den Magen und vor dem Studium und der Beschreibung dieser Farbe bat er seine Schülerinnen und Schüler, eine Zitrone zu essen. So sollte es mit jeder Reflexion über die Wirklichkeit sein: Wo hindurch
geht sie und welches ist ihre Farbe?(2)
Der Bilderökologe
Von 1955 bis 1969 war Widmers Weg propädeutisch. Zusammen mit Jacques de Pindray, der ihm die künstlerische Leitung der Agentur übertrug, steckte er sein Territorium ab, begeisterte sich für die Fotografie von bewegten Körpern, schuf für Korrigan sein erstes Logo, entdeckte aufstrebende Talente. Als er für die Galeries Lafayette arbeitete, wollte er «den Pariser Tempel von den unausweichlichen Waren befreien», die Werbung für Objekt und Preis abschaffen, die Idee einer Sammlung mit «atmosphärischen Bildern» einführen. Viele dieser schönen Ideen blieben jedoch in der Schublade, weil sie leider «nicht den
Kundenwünschen entsprachen». Mehr Freiheit kam mit Le Jardin des Modes. Das unspektakuläre Heft mit Strickanleitungen wurde unter Widmers Leitung zur spielerisch modernen Frauenzeitschrift, die mit viel Geist zu informieren und überraschen vermochte. Widmer wirkte selbst als Fotograf und engagierte Talente. Ab 1960 konzipierte er auf Anfrage von Jacques Adnet, Direktor der Designschule ENSAD, einen Studiengang in Grafikdesign. Bis 1996 trieb er dieses Projekt immer weiter voran, definierte einen gemeinsamen Nenner und verpflichtete ein Team ( darunter ein wahres Schweizer Bataillon ), das alle Bereiche des Grafikdesigns abdeckte. Sein Studiengang wurde schliesslich zum «Departement für visuelle Kommunikation». Auf diese Weise schaffte er es, die Regel mit dem Spiel und den objektiven Schulunterricht mit seinem eigenen Schaffen in seiner Agentur zu vereinen.
Man möge mir verzeihen, dass ich hier einen persönlichen Ton anschlage. Im Oktober 1969 wurde im Musée des Arts décoratifs das Centre de Création Industrielle (CCI) eröffnet, dessen Gründung ich François Mathey anvertraut hatte. Ich kannte Jean und bewunderte seine Arbeit schon damals. Im Juni 1969 beauftragte ich ihn, zusammen mit seinen Studentinnen und Studenten 21 Plakate für das CCI zu entwerfen. Letztendlich hat er alles alleine und in Rekordzeit geschafft; die Studierenden waren in den Ferien. Es war das schönste Geschenk, das ich je erhalten habe. Die minimalistische grafische Gestaltung präsentiert nicht das ausgestellte Objekt. Was wahrgenommen wird, ist eine globale Identität, eine Familie, ein fühlbares mentales Erlebnis. Ich bin zweifelsohne nicht sehr objektiv, wenn ich dies sage, aber meiner Meinung nach sind diese Plakate ein Meilenstein in der Geschichte des Grafikdesigns. Von diesem Zeitpunkt an folgten sich meisterhafte Werke Schlag auf Schlag. Auch der Architekt der Sociétés d'Autoroutes sah die Plakate des CCI und kontaktierte Jean. Sofortige Antwort, aber geduldige Arbeit in Bezug auf die Form, um schliesslich zum Wesentlichen zu gelangen; zur völligen Bereinigung, zum Piktogramm. Ein universelles Modell. 1974 schlossen sich Widmer und Hiestand zusammen und gewannen den internationalen Wettbewerb für die Kreation des Logos und der Signaletik für das Centre Pompidou. Das herausragende Resultat bringt die Gesamtheit der Faktoren in Einklang und berücksichtigt sowohl die unterschiedlichen Departemente (Farbcode), den Strom der Besuchenden und die räumliche Orientierung (ursprüngliche Typografie von Adrian Frutiger; die vertikale Ausrichtung der Schilder nimmt Bezug auf die räumliche Aufteilung und ermöglicht einen besseren Fluss - leider wurde diese vertikale Schrift niemals wirklich respektiert). Jean Widmers grossartiges Logo, das die Architektur des Gebäudes auf puristische Art und Weise würdigt, wurde weltberühmt. Im Jahr 2000 meinte oder befand der neue Präsident des Centre Pompidou, dass er mit einem neuen Logo die Nachwelt nachhaltig prägen würde. Petitionen und Proteste waren die Folge, die Bedrohung konnte abgewendet werden. Das Musée d'Orsay, die Galerie nationale du Jeu de Paume, das Institut der Arabischen Welt, die französische Nationalbibliothek, das staatliche französische Naturkundemuseum, die Stadt Berlin und weitere namhafte Institutionen vollenden diese Erfolgsbilanz. Jean Widmer schreibt Geschichte.
Die Gemeinnützigkeit erweiterte sein Tätigkeitsfeld: «Die Beziehungen zu einem ausschliesslich wirtschaftlichen Universum interessieren mich nicht.» Das Bild soll dauerhaft sein und auf die Konsistenz, nicht auf die Erscheinung ausgerichtet sein. Es soll eine Einheit aus Sprache und Identität sein. Und es soll eine Verbindung sein, die Sinn und Sinnlichkeit, praktische Anwendung und Wirtschaftlichkeit, Zeit und Raum in sich trägt. Es soll übertragbar und für jeden zugänglich sein. Text und Bild vereinen sich in einem erfolgreichen Konzept auf der Grundlage von Recherchen und Zeichnungen. Man muss der Zeit Zeit geben, um zur «Form der Einfachheit» zu gelangen. Weniger ist mehr. Den Auftraggebenden solche Fristen und solche Auszeiten aufzuerlegen, um schliesslich das ideale Resultat zu erreichen, benötigt viel Energie. Oft fragen die Grafikschaffenden die Kunden einfach, was sie möchten. Jean Widmer sagt hingegen: «Diese Frage will ich gar nicht erst hören.»
Während seines ganzen Werdegangs hat Jean Widmer Werke entworfen, die Sinn machen, der Vernunft folgen sowie eine Ästhetik und ein künstlerisches Geschick vermitteln, die niemals nur dekorativ sind, sondern induziert werden. Er schöpfte aus den Quellen des Bauhauses und De Stijls seinen eigenen Ausdruck und hat niemals aufgehört, in seinen Formen und Farben eine neue Kunstform zu zeichnen und zu entwickeln. Ausgehend von Skizzen beschäftigt er sich heute mit der dritten Dimension und kreiert Skulpturen, die den Raum einfangen und ihm Form verleihen. Designer, Grafiker, Künstler; Jean Widmer, voll und ganz.
François Barré
Übersetzung: Denise Hofer, BAK
(1) Sofern nichts anderes angegeben ist, stammen die Zitate aus einem Gespräch, das Jean Widmer mit Margo Rouard geführt hat und das in Jean Widmer, graphiste, un écologiste de l‘image, 1995, veröffentlicht wurde. Das Interview fand anlässlich der Ausstellung zu Jean Widmers Werk im Centre Pompidou statt.
(2) Auf dem von Jean Widmer entworfenen Plakat für die Ausstellung Couleur im CCI, 1975, ist «Gelb» in violetter, «Orange»
in blauer und «Violett» in gelber Farbe geschrieben.