Alberto Nessi
Schweizer Grand Prix Literatur 2016
Alberto Nessi ist wie die Schriftstellerfigur in Antonio Tabucchis Erzählung ein leidenschaftlicher Sammler wahrer Begebenheiten, die er danach zu Papier bringt. Auch in seinem letzten Buch, Miló (2014), verwandelt er individuelle Lebensgeschichten in bemerkenswerte literarische Werke und bezeugt so erneut sein ausserordentliches Einfühlungsvermögen und seine Fähigkeit, Menschen zuzuhören.
Die Schriften von Nessi sind in der Tat eine Art Aufzeichnung von Bruchstücken im Leben gewöhnlicher Menschen. Menschen, die im Hintergrund blieben, die von der Geschichte übergangen und vom kollektiven Gedächtnis vergessen wurden. Nicht zufällig lauten die aussagekräftigen Titel seiner ersten Gedichtsammlungen I giorni feriali, Ai margini und Rasoterra. Sie stehen für ein bereits früh festgelegtes thematisches und stilistisches Gebiet, dem der Autor stets treu geblieben ist. Trotzdem hat ihn dies nicht davon abgehalten, die Inhalte und Formen seiner Werke stets weiterzuentwickeln und neu zu gestalten. Diese Selbsttreue und gleichzeitige Horizonterweiterung kommen in Nessis dichterischem Sammelband Ladro di minuzie (2010) oder in seinem Roman La prossima settimana, forse (2008) gut zum Vorschein. Letzterer weist eine komplexe und mehrschichtige Struktur auf, welche die Figur des José Fontana auf der Reise von einem Tessiner Seitental in die urbane Realität einer intellektuell und politisch lebendigen europäischen Grossstadt begleitet: ins Lissabon der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.