Stefan Kaegi

Stephan Kaegi
Stephan Kaegi
© BAK/Geoffrey Cottenceau & Romain Rousset

Stefan Kaegi

Innovative Kollektivarbeit

Schweizer Grand Prix Theater / Hans-Reinhart-Ring 2015

Stefan Kaegi, geboren 1972 in Solothurn, studierte in Zürich Kunst an der «F&F» und in Giessen Angewandte Theaterwissenschaften, wo er Helgard Haug und Daniel Wetzel kennenlernte. Seit dem Jahr 2000 bildet das Trio ein Autoren-Regie-Team. Sie arbeiten in wechselnden Konstellationen: oft alle drei zusammen, häufig Haug und Wetzel als Duo und Stefan Kaegi immer wieder alleine. 1998 hatte Kaegi bereits mit Bernd Ernst das Label Hygiene heute gegründet, um Ready-mades des Alltags ins Theater zu holen. Ab 2002 firmieren alle Arbeiten unter dem Label des deutsch-schweizerischen Theaterkollektivs Rimini Protokoll, dessen Hauptquartier und Produktionsbüro seit 2003 im Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) ist. Sie gelten als die «Protagonisten und Begründer eines neuen Reality Trends auf den Bühnen» (Theater der Zeit), der die junge Theaterszene geprägt hat.
Für das Festival Theater der Welt 2002 kopierten Ernst/Haug/Kaegi/Wetzel gemeinsam mit 200 Bonner Bürgerinnen und Bürgern eine ganze Bundestagssitzung live unter dem Titel «Deutschland 2». Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse verbot die Aktion unter dem Hinweis auf die ‚Würde des Hauses‘ und entfachte so eine Diskussion über Kunstfreiheit, die Beziehung Politik-Kunst und die Grenzen des Theaters und der Realität. Inzwischen produzieren Rimini Protokoll ihre Arbeiten im Bereich Theater, Hörspiel, Film, Installation auch in etablierten Institutionen und Festivals auf der ganzen Welt. Stefan Kaegis Modelleisenbahnwelt «Mnemopark», 2005 am Theater Basel entstanden, wurde als Live-Filmset im Massstab 1:87 in über 30 Städten zwischen Tokio und Montreal gezeigt, in seiner Arbeit «Remote X» von 2013 begibt sich in jeder Stadt eine Horde von Menschen auf eine virtuelle Schnitzeljagd. Das Kollektiv wurde mit den Produktionen «Deadline» (2004), «Wallenstein – eine dokumentarische Inszenierung» (2006) und «Situation Rooms» (2014) zum Berliner Theatertreffen eingeladen und erhielt viele Preise, darunter 2007 einen Spezialpreis des Deutschen Theaterpreises DER FAUST, 2008 in Thessaloniki einen Europäischen Theaterpreis in der Kategorie Neue Theaterwirklichkeiten, 2011 wurde das Gesamtwerk von Rimini Protokoll mit dem Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig und 2013 die Multiplayer-Videoinstallation «Situation Rooms» mit dem «Excellence»-Award des 17. Japan Media Arts Festivals ausgezeichnet.

Rimini Protokoll entwickeln auf der Bühne und im Stadtraum ihr Theater, das nicht Laien sondern Experten des Alltags ins Zentrum stellt. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Weiterentwicklung der Mittel des Theaters, um ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen. Den Proben zu den Stücken gehen umfangreiche Recherche- und Casting- und Konzeptionsprozesse voraus, die einen grossen Teil des Arbeitsprozesses ausmachen. Für «Deadline» wurden beispielsweise Statistiken über Todesgründe und Orte des Sterbens, Erfahrungen von Angehörigen und Informationen über die Organisation von Begräbnissen gesammelt. Auf der Bühne standen ein Bürgermeister, ein Steinmetz, ein Trauerredner und eine Medizinstudentin, die nicht auf die Wirklichkeit verwiesen, sondern aus dieser kamen. Haug/Kaegi/Wetzel erklären eine Daimler Hauptversammlung zum Theaterstück oder inszenieren in Berlin, Zürich, London, Melbourne, Kopenhagen oder San Diego mit hundert statistisch repräsentativ ausgewählten Bürgern 100% Stadt. In Berlin und Dresden entwickelten sie begehbare Stasi-Hörspiele, in denen die Observationsprotokolle per Androidtelefon abhörbar wurden. Milo Rau, Schweizer Theaterpreisträger 2014, fasste schon 2004 in der NZZ das Credo von Rimini Protokoll zusammen: «Die beste Kunst ist die Wirklichkeit selber: kopiert, neu zusammengesetzt, in sich verspiegelt, dem Zuschauer zur Begutachtung vorgelegt.»

«Die Theaterarbeiten von Stefan Kaegi und Rimini Protokoll waren von Anfang an verblüffend und horizonterweiternd. In den Dramen des Alltags, die sie für das Theater entdeckten, berichteten auf der Bühne plötzlich Experten von Systemen und Strukturen des täglichen Lebens. Das war nicht nur auf eine neue Art erhellend und unterhaltsam, es war auch eine Herausforderung für alle, die Theater beschreiben und analysieren. Zahllose Artikel, Referate, Diplom- und Masterarbeiten, Dissertationen und mehrere Bücher später sind Rimini Protokoll immer noch dabei, unsere Vorstellung von zeitgenössischem Theater als Kommunikationsinstrument mit der Welt zu revolutionieren.
Rimini Protokoll ist ein Label, das drei Künstlern so viel Struktur wie nötig und so viel Freiheit wie möglich bietet. Weder einsame Genies noch verschworenes Kollektiv – auch die Form ihrer Zusammenarbeit ist wegweisend für das Theater von morgen. Ihre Projekte haben sie bereits auf sämtlichen Kontinenten realisiert, und damit wie nebenbei eine Generation von Theatermachern weltweit geprägt. Denn ihre Sprache, ihre Methode und ihre Neugier sind immer spezifisch und zugleich universell. Der Schweizer Grand Prix Theater/Hans-Reinhart-Ring 2015 geht somit an ein Welttheater.»

Anja Dirks, Jurymitglied