Swiss Grand Prix Design 24 Lucie Meier

Lucie Meier

Durch Instinkt

von Christiane Arp

Wenn sie sich auf anderem Weg kreativ ausdrücken wollte als mit Modedesign, würde sie das nicht mit Worten tun, sagt sie. Dabei reichen ihr nur wenige Worte, um ihr Innerstes zu offenbaren. Ein einziges ist genug auf die Frage nach einem Beispiel für perfektes Design: «die Natur». Eine Antwort, die beim Gegenüber sofort ein Kopfkino in Gang setzt und den kreativen Kosmos von Lucie Meier ausleuchtet. Es ist keine romantische Verklärung, sondern eine Art intuitiver Dialog, der nach einer Stoff werdenden, gestalterischen natürlichen Lösung strebt – ursprünglich in Gang gesetzt durch die Inspiration von einem Kunstwerk, einem Buch, vielleicht auch einem Gefühl, «einem Moment in meinem Leben». Was sie daraus seit nunmehr sieben Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Luke als kreatives Duo für Jil Sander entstehen lässt, setzt neue ästhetische aber auch ethische Massstäbe in der Modebranche. «Evolution in Progress», umschreibt sie ihren kreativen Prozess. Neues nur der Neuheit willen zu schaffen, ist ihr zuwider. «Alles, was wir kreieren, muss einen Sinn haben, muss uns berühren».

Dieses haptische wie emotionale Berühren durch Kleidung faszinierte sie von klein auf. Aufgewachsen als Lucie Mennig am Fusse des Matterhorns, in Zermatt, wo die Familie – erst die Eltern, nun der Bruder mit seiner Frau – bis heute das Restaurant «Zum See» in einem mehr als 500 Jahre alten Chalet betreibt, wusste Lucie Meier schon sehr früh, dass sie einmal etwas mit Mode machen wolle. Auslöser war ihre Mutter, die Stoffe und Mode liebt. Und besonders Jil Sander.

Die ersten eigenen Schritte in die Modewelt führten sie dann an die Polimoda nach Florenz, wo sie begann, Modemarketing zu studieren. Ein kurzer Ausflug, der ihr schnell klar machte, dass dieser Bereich der Fashionwelt nicht ihrer Sehnsucht entspricht. Der Stopover an der italienischen Hochschule ist dennoch richtungsweisend für ihr Leben. Denn sie lernt einen jungen Kanadier mit Schweizer Wurzeln kennen und lieben: Luke Meier. Sie gehen gemeinsam nach New York und Lucie beginnt für das Magazin Nylon zu arbeiten. Sie beschliesst, Modedesign zu studieren und bewirbt sich an der École de la Chambre Syndicale in Paris. Anschliessend fängt sie als Praktikantin bei Louis Vuitton unter Marc Jacobs an. «Eine unglaubliche Erfahrung», wie sie sagt, die zu einem fünfjährigen Engagement im Team des genialischen Modevisionärs wurde. Die nächste Station nicht weniger hochkarätig: Bei Balenciaga kreiert sie mit Nicolas Ghesquière die Showkollektion des legendären Labels. Ein Wechselbad kreativen Genies: «Bei Marc Jacobs entstand eine Kollektion in drei Wochen, bei Nicolas Ghesquière nahmen wir uns sechs Monate Zeit». Schliesslich folgt Dior, wo sie zur Headdesignerin des Sommerteams unter Raf Simons avanciert. Nach dessen Weggang Ende 2015 leitet sie interimistisch mit Serge Ruffieux das Couture-Haus, bis Maria Grazia Chiuri 2016 die Führung übernahm.

Der Ruf an die kreative Spitze von Jil Sander 2017 erwies sich – «früher als gedacht» – als erfüllter Wunsch: Neben dem Lieblingslabel aus der Kindheit auch in Form der Zusammenarbeit mit ihrem Mann. So unterschiedlicher die berufliche Herkunft der beiden nicht sein könnte, erweist sich das Teamwork rasch als kongenial. Lucie, die intuitiv aus dem Bauch heraus kreiert auf der einen, Luke, der leidenschaftlich analysiert und Prozesse erforscht, auf der anderen Seite. Er bewundert in der Zusammenarbeit «ihre Ruhe, ihre Intuition und ihr absolut unfehlbares fotografisches Gedächtnis». Gemeinsam suchen sie nach Wegen, Mode Sinn und Schönheit zu verleihen, in einer Zeit, in der das klassische Schubladendenken zwischen Opulenz und Minimalismus ad absurdum geführt wird. Etwas, das die Spannung, die durch Gegensätze entsteht, befeuert. Nach kreativer Essenz.

In der selbstgefälligen, um jeden Preis Aufsehen erregenden Modewelt ist Lucie Meier eine Ausnahmeerscheinung, die gerade deshalb gesehen und gehört wird, weil sie in sich ruhend einen nachhaltigen kreativen Weg gefunden hat, den viele andere noch hektisch suchen.

Dabei geht es auch viel um neue Materialien, die Umsetzung und Überprüfbarkeit nachhaltiger Prozesse, um zeitgemässe Linien, die das Gen der Zeitlosigkeit in sich tragen. «Wir alle haben die Schränke voll mit Kleidern», sagt Lucie Meier. «Es ist nicht so, dass jemand unbedingt einen neuen Mantel bräuchte. Man braucht jedoch etwas, das einen berührt und bewegt. Ich hoffe, dass ich den Leuten etwas Gutes geben kann, und versuche, Menschen den Alltag zu verbessern oder zu erleichtern, wenn ich zu ihrem Selbstvertrauen etwas beitragen kann.»

Christiane Arp war von 2003 bis 2020 Chefredakteurin der deutschen VOGUE. Die studierte Modedesignerin ist Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzende des Fashion Council Germany. Sie gilt als eine der wichtigsten Nachwuchsförderinnen junger Designtalente und kennt Lucie Meier und ihren Mann seit vielen Jahren.