Chantal Prod’Hom

Video: Adrian Graf, Zürich & Julia Ann Stüssi, Zürich
Graphic Design: Ard.works (Guillaume Chuard), Lausanne / London
Music: Alors. Music for Visuals, London.

Chantal Prod’Hom

Wo der Elan hinführt

von Florence Grivel

Wenn sie ein Objekt wäre? Dann bestimmt eine italienische Kaffeemaschine, la Bialetti, formschön und aus Aluminium. Sie wurde geschaffen, um den Kaffee in die Haushalte zu bringen, und ihr Erfinder liess sich von einem Alltagsgegenstand, genauer gesagt vom Waschkessel, inspirieren. Heute ist sie ein Kultobjekt, das es wie die Dalton-Brüder in allen Grössen von ganz klein bis ganz gross gibt. Jeden Tag sorgt sie für eine kleine Freude, die durch das eigene Mahlen der Bohnen, den typischen Wohlgeruch und das charakteristische Geräusch des aufsteigenden Kaffees noch gesteigert wird.

Mit anderen Worten, die grosse Botschafterin des Designs empfängt die Welt mit offenen Armen, geniesst sie, lässt die Poesie ergonomischer Formen weiterherum strahlen, trägt Erfolge aus der Schweiz in die Welt hinaus, holt die Welt in die Westschweiz und verkörpert die unbegrenzte Kreativität.
Ihre sowohl von feinem Gespür wie auch kühnen Ideen geprägte Laufbahn zeichnet sich schon früh ab.
Schon als Kind kann Chantal Prod’Hom – die Jüngste von vier Geschwistern – nicht stillsitzen, ist neugierig und offen und braucht Intensität, Sinnhaftigkeit, Gegenständliches: Diese Verankerung in der Realität festigt sich sehr schnell.
Ihrem Instinkt folgend beobachtet sie gerne und stellt die Dinge miteinander in Beziehungen, studiert Verknüpfungen, nimmt verschiedene Perspektiven ein und möchte in die Realität eintauchen, sich mit ihr verbinden.

Wie beim Tanzen oder beim Skifahren. Als Kind nimmt sie Unterricht in Ballett und modernem Tanz, später lässt sie sich zur Skilehrerin ausbilden, um sich die ersehnten Reisen in ferne Länder finanzieren zu können. Um sich die ersehnten Reisen in ferne Länder finanzieren zu können, lässt sie sich zur Skilehrerin ausbilden. Einmal mehrverbindet sie das Nützliche mit dem Angenehmen, was so ganz die Idee von Design widerspiegelt! 
Obschon in jungen Jahren der Körper und seine Möglichkeiten im Vordergrund ihrer Aktivitäten stehen, formt sich bereits der Wunsch nach schönen Formen (!).
Dieser führt sie kurze Zeit später in die Welt des Designs, zu dessen Aufgabe es gehört, Bedürfnisse zu befriedigen, Probleme zu lösen und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern, das also für den Körper des Individuums und der Gesellschaft geschaffen wird oder von ihm ausgeht. Sie wird ihre ganze Energie und ihr Talent dafür einsetzen, dem Design einen angemessenen Platz in der Kunst zu verschaffen.

Es braucht einen langen Atem, um Chantal Prod’Homs Karriere zu machen – eine Karriere, die nie geplant war, sondern sich im Laufe von fruchtbaren Begegnungen und harter Arbeit entwickelt hat.

An der Philosophischen Fakultät der Universität Lausanne wählt sie die Studienfächer Archäologie und Kunstgeschichte. Da sie schon immer gerne Theorie und Praxis verbindet, legt sie bei den Ausgrabungen selbst Hand an, arbeitet an der Restaurierung einer mittelalterlichen Wandmalerei mit und verfasst eine Arbeit über die Geschichte des ersten Kunstmuseums in Lausanne.
Danach geht es in die Vereinigten Staaten, wo sie Praktika im MoMa und im Guggenheim New York absolviert und so die Vielfalt der Berufe und Kompetenzen kennenlernt, die es braucht, um grosse Institutionen zu führen. Sie im Rhythmus einer Stadt, in der sie auch immer wieder auf Andy Warhol und seine Factory-Clique trifft.

Nach ihrer Rückkehr nach Lausanne wird Chantal Prod’Hom von der damaligen Direktorin des Musée cantonal des Beaux-arts de Lausanne, Erika Billeter, als Assistenzkuratorin angestellt. In dieser Zeit lernt sie den genialen Brückenbauer und Kulturvermittler Pierre Keller – ein engagierter Verfechter des Designs – und den grossen Sammler Asher Edelman kennen.

Die Neunzigerjahre beginnen fulminant: Das erste Westschweizer Museum für zeitgenössische Kunst, die Fondation Asher Edelman (FAE), wird in Pully eröffnet. Chantal ProdʹHom führt das Haus während fünf intensiven Jahren mit viel Geschick. Als dann Jeff Koons und die Cicciolina, Ileana Sonnabend, Frank Stella und andere Stars der zeitgenössischen Kunst in diesem kleinen Flecken der Westschweiz auftauchen, ist dieser vielleicht noch nicht ganz bereit dafür.
In der Zwischenzeit lernt sie den Fotografen Oliviero Toscani – tollkühner Gestalter der Benetton-Werbekampagnen – bei einer Ausstellung in der Fondation Edelman kennen. Er bietet ihr an, mit ihm zusammen seine Fabrica, ein Zentrum für junge Kreative in Treviso, zu leiten. Die Herausforderung ist gross und vielversprechend. Zwei Jahre lang führt die zukünftige Direktorin des mudac ein hektisches Leben und reist auf der ganzen Welt herum, um neue «Talente» zu finden, bevor sie nach Lausanne zurückkehrt, wo ein verlockendes Angebot auf sie wartet.

Chantal Prodʹhom geniesst das Vertrauen der Behörden, weil sie Budgets im Griff hat und ihre Projekte sorgfältig leitet. Das Vorhaben eines Museums für angewandte Kunst und zeitgenössisches Design an der Place de la Cathédrale nimmt Fahrt auf und am Steuer sitzt Chantal Prodʹhom.
Das mudac zeigt in der Folge fünf bis sechs Ausstellungen pro Jahr, was für ein Museum, das eher auf ein experimentelles und visionäres Programm denn auf designhistorische Werte setzt, ein hohes Tempo ist.
Die thematischen Ausstellungen des mudac, die zeitgenössische Kunst und Design miteinander verbinden, machen Furore. Den Nerv der Zeit treffend, oder dieser sogar voraus, provozieren sie uns und beflügeln unsere Fantasie. Als namhafte Beispiele unter vielen anderen seien hier Air en forme, die erste Ausstellung im Jahr 2000, Cache-Cache camouflage, 2002, Nature en kit, 2009 und Nirvana, 2014, genannt.

Da bekanntlich aller guter Dinge drei sind, eröffnet die Kunsthistorikerin während ihrer Laufbahn drei Museen: die Fondation Edelman in den frühen Neunzigerjahren, das mudac in der Maison Gaudard in Lausanne 2000 und das neue mudac im Juni 2022 in der Plateforme 10.
Dem gebührt Ehre: 2022 verleiht ihr ihre Heimatstadt Lausanne die Goldmedaille für ihr bemerkenswertes Engagement zugunsten der Entwicklung des mudac und des neuen Kunstviertels Plateforme 10, wo sie von 2015 bis 2020 den Vorstand präsidierte, sowie auch für den wichtigen Beitrag, den sie zur kulturellen Ausstrahlung der waadtländischen Hauptstadt geleistet hat.
Und wie geht es nun für Chantal Prod’Hom «im Ruhestand» weiter?
Sie wird weiter als Beobachterin unterwegs sein, sich begeistern lassen und die Welt durch jene erfassen, die über sie nachdenken und durch Kreativität neu erfinden. Ihnen wird sie weiterhin eine Stimme verleihen.

Florence Grivel, geboren 1969, ist Kunsthistorikerin, Spezialistin für bildende Kunst bei RTS, Autorin von fiktiven und autobiografischen Texten. Sie malt, hat zwei Bände mit Aquarellen im Dialog mit den Gedichten von Julien Burri veröffentlicht, konzipiert Ausstellungen, produziert Audioguides für Ausstellungen verschiedener Kulturinstitutionen.