Essay
Der Spurenleser: Ralph Schraivogel und das Plakat
Wenn ein Plakat für Winterpneus wirbt, dann sehen wir darauf Winterpneus. Schade, dass Ralph Schraivogel noch nie die Möglichkeit erhielt, ein Plakat für Winterpneus zu gestalten. Was käme wohl dabei heraus?
Diese Frage impliziert nicht, dass Schraivogel die Sache verhüllen will. Im Gegenteil, er will sie sichtbar machen — nur anders als durch ein plattes Abbild. Er pflegt zu fragen: Was bedeutet das Thema, welches sind seine Bildmöglichkeiten und wie — wenn sie einmal erkannt sind — lassen sie sich visuell vermitteln? Schraivogel ist ein Übersetzer wie ein Fährmann: Wie dieser über den Fluss, so setzt er vom Inwendigen des Themas zum Sichtbar-Machenden des Bildes über. So stellt sich die Aufgabe der visuellen Gestaltung stets dar, doch er löst sie auf seine unverwechselbare Weise und in schon vielfach ausgezeichneter Qualität.
Seit gut dreissig Jahren hat er die Welt um seine Plakate bereichert. Nur wenige verraten durch ihre Raffinesse dem Kenner die Mühe, die sie ihn gekostet haben, einige wirken gar wie mühelose Aperçus, obwohl auch sie das Resultat eines Suchprozesses sind. Sagen wir es so: Wenn Aperçu, dann nur aus dem Stand einer stets neu errungenen Luzidität. Der Weg zum gültigen Entwurf führte stets über viel Versuch und Irrtum und beruht auf selbstkritisch gesteuerter Intuition.
Ich will versuchen, seiner bildschöpferischen Eigenart mit dem Ausstellungsplakat Die Welt im Kasten näher zu kommen (1994). Von der Camera Obscura bis zur Audiovision, fünfhundert Jahre Erzeugen und Transportieren von Bildern, wo doch — so könnte man denken — die Welt einem ohnehin vor Augen steht. (Dies ist das thematische Gravitationszentrum nicht nur dieser Ausstellung, sondern von Ralph überhaupt.) Was macht er? Eine Architekturperspektive aus der Renaissance wird überlagert von einer modernen Strassenflucht, wenn man denn die Projektionsstrahlen des Beamers auch so lesen will — man kann, muss aber nicht. Die typografischen Elemente des Plakats sind in einen ordnenden Rahmen eingespannt, der zwar fragil wirkt, doch das Bildgeschehen dirigiert. Darin und in aufflackernden Helligkeits- und Dunkelheitsflecken werden Wörter und auch einzelne Buchstaben gedreht und werden Wortteile überblendet. Auch ein fragmentiertes Stroboskop mit einer den Salto schlagenden Menschenfigur ist in das prekäre Gefüge einbezogen. Es braucht beides, den Rahmen und dessen Gefährdung, um den Tiefenraum des Ausstellungsthemas sichtbar zu machen.
Dieser Raum unter oder hinter der Oberfläche gibt Schraivogels Plakaten ihre charakteristische Tiefe, in der es immer Bewegung gibt, ähnlich der Konvektion von Schichten aus Luft oder Wasser, die aufsteigen, absinken und sich austauschen. Alle seine Plakate sind ja auch nur bedrucktes Papier, aber es gibt Fälle, wo sogar die Schrift wie aus der Tiefe aufzutauchen scheint. Das Plakat zur Ausstellung Gross & klein (1997) verdankt sich der Entdeckung, dass ein zerkratzter Massstab aus Plexiglas, mit dem Vergrösserungsapparat auf Fotopapier belichtet, wie ein Blick ins All erscheint, wobei die Zahl 8 zum Unendlichkeitszeichen wird.
Diese immanente dritte Dimension verleiht seinen Plakaten eine spürbare Körperlichkeit. Bis etwa 2000 war sie begünstigt durch die Technik der Filmmontage, aber nicht darin begründet. Es handelt sich um eine thematische und nicht um eine technische Faszination. Nicht um eine Rezeptur. Deshalb gilt es, immer wieder neue Formen des Übersetzens zu finden. Im Plakat zu Akira Kurosawa (Filmpodium Zürich) erscheinen die Schriftzeichen wie Origami aus Papier gefaltet. (Die Schrift zeichen sind lackiert, der Untergrund, eine Fotografie mit Reitern, nicht.) Dabei «faltet» Schraivogel nicht einzelne Buchstaben als Typen, sondern macht das Faltprinzip selbst zum Thema. Der Buchstabe A etwa kommt vier Mal vor, und jedes Mal verschieden. Es scheint, als ob die dritte Dimension, die es zum Umfalten des Papiers braucht, anwesend wäre. Solche Entscheidungen — anzunehmen ist : unzählige von ihnen und immer wieder andere — sind nun mal das einsame Geschäft des Künstlers. Und wenn es die richtigen Entscheidungen sind, bekommen die Plakate ihre Spannung und Ausstrahlung.
Im Plakat zur Retrospektive Woody Allen kann man (muss nicht) den Strassenplan von New York mit dem schräg verlaufenden Broadway sehen. Auch hier legt Schraivogel eine Assoziationsspur: Woody Allen — «Stadtneurotiker» — Manhattan; aber nur Woody Allen ist explizit genannt, die anderen Elemente werden impliziert und laden das Plakat mit seiner... seiner was? auf. «Botschaft»? Nein, das passt nicht zu Schraivogel, weil eindimensional. Stattdessen: Atmosphäre, Stimmungslage... Er findet jedes Mal einen passenden Wirkstoff, mit dem er seine Plakate impft und der seine Wirkung im Verborgenen entfaltet. Und wir verstehen, dass so jeder Auftrag zunächst ein Erkenntnisproblem ist.
Als Legastheniker hat sich Ralph Schraivogel dazu zwingen müssen, beim Entwerfen eines Plakats «die Buchstaben gernzuhaben.» Deshalb zählt er die Wörter aus, befragt sie auf ihre Form, zerlegt sie in ihre Buchstaben und weist sie an ihren Platz (wie früher im Theater). Das ist ein formeller Vorgang und nicht sprachliche Routine. Er sagt auch : «Mich interessiert das Bild dort, wo die Sprache nicht mehr funktioniert.» Weil — so liesse sich ergänzen — die Sprache ein schwerfälliges (diskursiv-lineares) Ausdrucksmittel ist und ein Bild unmittelbar, als Ganzes (simultan) wirkt. Für einen visuellen Gestalter ist es das Bild einschliesslich der Typografie, in dem er seine Wirkstoffe unterbringt. Wie und womit, darin liegt die Kunst.
Claude Lichtenstein