Etienne Delessert

Video: Adrian Graf, Zürich & Julia Ann Stüssi, Zürich
Graphic Design: Ard.works (Guillaume Chuard), Lausanne / London
Music: Alors. Music for Visuals, London.

Etienne Delessert

«Ich schreibe Zeichnungen und male Ideen»

von Jacques Poget

Mit seiner scharfsinnigen Formulierung spielt Etienne Delessert nicht etwa mit dem Paradoxen, sondern definiert sein besonderes Talent ganz genau. Schreiben und Zeichnen: Die beiden Handwerke werden meistens strikt getrennt, sogar wenn sie von derselben Person ausgeübt werden, wie etwa bei Dubuffet (dessen schriftstellerisches Talent genau wie jenes von Delessert grosse Beachtung verdient). Sofern sich der Schreibende nicht der reinen Poesie widmet, spricht er im Wesentlichen den Intellekt an. Sofern sie keine rein technische Zeichnerin ist, spricht die bildende Künstlerin vor allem die Emotionen an.

Delessert vereint die beiden Aktivitäten, um «die menschliche Umgebung in Einklang zu bringen» – so lautet jedenfalls die französische Definition des Desgins im Larousse: «harmoniser l’environnement humain». Der Duden zieht auf Deutsch die «formgerechte und funktionale Gestaltgebung» vor. Beide Definitionen passen auf die Arbeiten von Delessert. Auf seine Bücher und Filme für Kinder, auf die Illustrationen von Zeitschriften und die Plakate, die ihn zu einem Meister der Vorstellungswelt gemacht haben, zu einem der «Maîtres de l’imaginaire», wie die Stiftung heisst, die er für den Erhalt von Werken seiner Kolleginnen und Kollegen ins Leben gerufen hat.

Die Vorstellungskraft treibt Delessert während seines ganzen Lebens an: «Die Realität verformen».

Wenn er die Allegorie – oder die Metapher – seines eigenen Lebens in La Corne de Brume beschreibt und zeichnet, die Zauberflöte auf seine ganz persönliche Weise in einen Film umsetzt und aus den Quellen der Künstler Saul Steinberg, des Psychologen und Logikers Jean Piaget oder des Dichters Maurice Chappaz schöpft, dann verfolgt er ein einziges Ziel: Eine höhere Dimension erschliessen, in der die Freiheit der Gedanken und Gefühle grösser ist. Wenn er das Evian-Wasser anpreist und verkauft, für die New York Times die Tragödie des Space-Shuttles Columbia illustriert, Yok-Yok verfilmt oder seine Maus die Welt entdecken lässt, dann erfindet er jedes Mal «die passendste und funktionalste Form» zwischen Konzept und ästhetischen Emotionen. Zwischen dem Marketingprodukt und dem intellektuellen Ansatz oder zwischen der Erzählung für Kinder und den Porträts von herausragenden Persönlichkeiten gibt es für ihn keine Hierarchie: Seine Arbeiten erforden die gleiche Aufmerksamkeit, die gleiche Kühnheit.

Die Vielfalt seiner sechzigjährigen Karriere vermag zu erstaunen. Nach einem Maturitätsabschluss in Latein und Griechisch entscheidet er sich gegen die universitäre Laufbahn und für das visuelle Vermitteln von Ideen. Er lässt sich in einem Grafikbüro anstellen und erlernt das Zeichnen als Autodidakt. Dabei holt er sich seine Inspiration bei der Zeitschrift Graphis und bei den Plakaten der 1960er-Jahre, die von Deutschschweizer Koryphäen wie Herbert Leupin, Celestino Piatti oder Armin Hofmann geprägt sind. Die Sensibilität für die Kunst, die auf der Strasse und in den Zeitungen zu sehen ist, macht ihn zum Erben dieser grossen Vorgänger, wenn auch sehr indirekt.

Zweimal verlässt er Erreichtes, um anderswo Neues zu lernen. In Paris, wo er sich zunächst für seine Werbeplakate die Farbe zu eigen macht, dann in New York, der Stadt von Milton Glaser und der Gruppe um das Push Pin Studio. Er taucht ein, ganz tief: Der Delessert-Stil imitiert niemanden, auch wenn er voller Anspielungen ist, etwa an Bosch (laut Ionesco) oder an seinen Freund André François. Er verleugnet seine Einflüsse nicht und würdigt die Älteren, die Gleichaltrigen und den Nachwuchs mit seiner Grosszügigkeit, aus der die Maîtres de l’imaginaire für die Illustration, die Website ricochet.org für Zeichnungen für Kinder oder eine Ausstellung als Hommage an Heinz Edelmann entstanden sind.

Aber Delessert wird dann zu Delessert, wenn er auf sich selbst hört. Für die Kritikerin Françoise Jaunin gehört er «keiner bestimmten Bewegung an, ausser vielleicht in seinem bildnerischen Schaffen, der dunkleren Seite seines Werks mit expressivem und groteskem Einschlag: Es ist der grosszügige, zeitlose Expressionismus, der allen Künstlerinnen und Künstlern zu eigen ist, die ihr existentielles Unwohlsein in der Kraft der Gestik und im impulsiven Ausbruch der Emotionen ausdrücken. Delessert fügt einiges an fantastischer Düsternis hinzu, wie wir sie insbesondere bei James Ensor kennen.»

Wir sind weit entfernt von einer Schule. Es ist Delessert selbst, der Schule macht im Bereich des Buchs (und später des Films) für Kinder, dies wiederum auf indirekte Weise. Nach Maurice Sendak und Tomi Ungerer, die er als Kollegen respektiert und bewundert, eröffnet Delessert einen neuen Weg. Seine Denkweise erneuert den Bereich vielleicht sogar noch stärker als sein grafischer Ausdruck. Dieser ist allerdings beeindruckend – besonders für die jungen Kunstschaffenden, mit denen er im Atelier Carabosse oder beim Verlag Tournesol arbeitet. Monique Félix, John Howe und viele andere waren dort und haben etwas von Delessert mitgenommen, ohne ihn jedoch zu imitieren.

Ein seltener Fall: Der Künstler, der für sich alleine zeichnet, ist gleichzeitig während vieler Jahre Unternehmer, leitet Teams, führt Ateliers, gründet Verlage und Produktionshäuser, die dutzende von Titeln herausbringen, auch die seiner Schülerinnen und Schüler. «Er hat einer ganzen Generation die Idee und die Zuversicht gegeben, dass das Kinderbuch ein vollwertiges künstlerisches und literarisches Genre ist: Er hat es geadelt», unterstreicht die Expertin Janine Kotwica.

Delessert denkt «als Kind»

Schon seit seiner Ankunft in Paris, als er von innovativen Werbekampagnen lebte, denkt Etienne Delessert an die Kinder und beginnt für sie zu arbeiten. Eines Tages wird er sich bewusst, dass er – wie alle Autorinnen und Autoren – aus den Erinnerungen an sich selbst als Kind schöpft, ohne wirklich zu wissen, wie sein Publikum denkt. Jemand, der mehr darüber weiss, ist der Professor für experimentelle Psychologie und Philosoph Jean Piaget in Genf. Der Waadtländer aus New York besucht ihn, befragt ihn, begeistert ihn und arbeitet schliesslich unter Piagets Betreuung mit dessen Assistentin Odile Mosimann zusammen. Sie führt eine massgeschneiderte Umfrage bei zahlreichen Kindern durch. Das Ziel: Verstehen, wie Kinder auf Geschichten reagieren, die von Erwachsenen erfunden und gezeichnet wurden, und wie sie ihre eigenen Geschichten erarbeiten und aufzeichnen. Das Schlüssel-Album Comment la souris reçoit une pierre sur la tête et découvre le monde [eine Metapher für den Geburtsschock] schöpft direkt aus den Ergebnissen dieser Studie, aber auch – und hier liegt das Wesentliche – aus der Fähigkeit des Zuhörens und der Offenheit der Forschenden. Das Vorwort von Piaget ist eines der ganz seltenen Ereignisse, bei denen sich die wissenschaftliche Kompetenz in aller Bescheidenheit in den Dienst eines künstlerischen Vorhabens stellt.

Es geht aber auch um Spirituelles, denn die vertikale Transzendenz durchzieht viele Bilder des Agnostikers Delessert. Selbst die Mineralien- und Pflanzenwelt teilt mit den Kreaturen – den Tieren, Menschen, Monstern und Engeln – zwei besondere Qualitäten: die Unberechenbarkeit und die geheimnisvolle Macht der Blicke. Wenn wir sie betrachten, fühlen wir uns von ihnen beobachtet. Sie sind mächtig.

Überall in seinen Arbeiten ist der Hauch der Freiheit und der Fantasie zu spüren. Eugène Ionesco hat es rasch erkannt und schrieb: «Delessert entdeckt die Schönheit, eine grossartige Entfaltung der Wesen und Dinge in der Farbe und durch die Farbe.»

Jacques Poget ist Journalist und Kolumnist. Er arbeitete für die Tagespresse und Zeitschriften sowie für Fernsehen und Radio, war Korrespondent in den Vereinigten Staaten, Chefredaktor von L’Illustré und 24Heures sowie Präsident des Cercle littéraire de Lausanne. Er ist spezialisiert auf Porträts und die Moderation von Literaturveranstaltungen.Beschreibung