Susanne Bartsch

Susanne Bartsch

Alle sind willkommen

Susanne Bartschs Schaffen entzieht sich jeder Kategorisierung – und genau darum geht es. Seit vierzig Jahren ist sie ein kultureller Synthesizer. Sie verwischt Grenzen und ist in Mode, Kunst, Musik, Beauty und Design aktiv, ohne einem der Bereiche jemals ganz anzugehören. Bartschs Werk befindet sich dazwischen. Sie gilt als «Königin der Nacht» und lebt die Tradition von Gertrude Steins Salons oder Andy Warhols Factory weiter: Ihre Events sind Laboratorien der Selbstdarstellung und Quellen der künstlerischen Inspiration. Sie beeinflussten schon unzählige Designerinnen und Designer und lancierten Karrieren wie die von RuPaul und Leigh Bowery. Susanne Bartsch ist ihr eigenes interdisziplinäres Gesamtkunstwerk: Sie beeindruckt mit ihrer sich wandelnden Erscheinung aus geschmückten Wimpern, geschnürtem Bodysuit, lackierter Perücke und High Heels.

Bartsch verlässt die Schweiz mit siebzehn Jahren, landet im London der ausgehenden Swinging Sixties und wird Teil der Musik und Designavantgarde der Stadt. Sie verkauft Samthosen an David Bowie, strickt Pullover für Jimmy Page und wird zur Schlüsselfigur der New-Romantic-Bewegung, bekannt für wöchentlich wechselndes Aussehen. 1981 kommt sie nach New York, vermisst die gewagten Mode-Statements aus London und eröffnet eine Boutique mit Underground-Designerinnen und Designern, die sie persönlich kennt und liebt. Mit ihrem Mut wird sie zur Wegbereiterin für die britische Mode und führt damals unbekannte Persönlichkeiten wie John Galliano und Vivienne Westwood auf die Bühne der Welt.
Nachdem sie New York eingekleidet hat, merkt sie, dass es der Stadt an Orten fehlt, wo sich die Leute auch zeigen können. Also organisiert sie 1985 ihre erste Party und entdeckt damit das Medium, mit dem sie ihren Sinn für alles, was visuell auffällt, mit ihrem Talent zum Zusammenbringen von Menschen kombinieren kann. Nach dem Scheitern der dekadenten Disco-Szene der Siebziger springt Bartsch ein und mischt New Yorks Nachtleben kräftig auf. Im Gegensatz zu Vorgängern wie Studio 54, die auf Exklusivität setzten, löst sie mit ihren Events die strengen gesellschaftlichen Hierarchien auf. Berühmtheit, Reichtum und Status spielen keine Rolle – nur der Style zählt.

Bartschs Partys ziehen eine breite Gesellschaft an, vom Punk-Rock zum Jetset, und werden zur seltenen Gelegenheit für ein Zusammentreffen scheinbar unvereinbarer Gruppen der Gesellschaft, die unter der Discokugel ihre Gemeinsamkeiten entdecken. Gerade heute, wenn Internet und Social Media Gleichgesinnte in virtuelle Bubbles drängen, trotzt Bartsch den Algorithmen und schafft einen Raum, in dem alle möglichen Individuen zusammen ausgelassen feiern können. Mit ihrer Offenheit für die Menschen am Rand – der Gesellschaft, der Kunst, der starren Kulturen – wurde sie zur Ikone der Otherness, vor allem in der LGBTQ+-Community. Als wandelbare Verführerin der Selbstdarstellung ermutigt sie ihre Gäste dazu, als ihr spektakulärstes Selbst zu erscheinen – was das auch immer sein soll. Wie ein Freund dem New Yorker sagte: «Sie ist Mutter Teresa im Glitzer-G-String».

Das Wort «Party» scheint zu einschränkend, um Bartschs Produktionen zu beschreiben. Ihre Happenings, die sich mit dem Zeitgeist weiterentwickelt haben, sind eine Galerie der aufwändig gekleideten Figuren und ein bunter Haufen Performerinnen und Performer, die opernsingend poledancen oder Spoken-Word-Texte dichten. Die Events sind viel mehr als ein Anlass zum Trinken und Tanzen, sie sind Nährboden und Sprungbrett für Bewegungen der Subkultur. Sie mögen zwar als Partys gedacht sein, sind aber eigentlich ein Schaufenster für ästhetische Experimente. Die Leichtigkeit, mit der sich Bartsch zwischen Underground und Establishment bewegt, sorgt dafür, dass es die Styles von ihrer Tanzfläche aus auf den Laufsteg, in Musikvideos und in den Mainstream schaffen.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Love Ball, ein Benefizevent, das sie 1989 zu Beginn der AIDS-Krise ins Leben ruft und das die Modebranche erstmals im Kampf gegen die Krankheit zusammenbringt. Es ist ein Drag Ball1 : Sie brachte Houses2 aus Harlems Ballroom-Community mit Sponsoren zusammen und führte ein Publikum aus Persönlichkeiten wie Madonna, Keith Haring und David Byrne in die lebendige Voguing3 -Szene ein – daraus entstanden Madonnas Vogue und der Dokumentarfilm Paris is Burning. Gleichzeitig sammelte der Love Ball in mehreren Ausgaben über 2,5 Millionen Dollar für HIV/AIDS-Betroffene.
Als Gastgeberin und Planerin dieser Events setzt Bartsch mit ihren eigenen Looks den Massstab. Mit Referenzen, die von Rossetti-Bildern bis zu Massai-Kunst reichen, verwandelt sie sich mit ihren Kleidern, Frisuren und Make-ups für jeden Anlass in eine andere Figur. Sie arbeitet mit kaum bekannten Designschaffenden wie BCALLA und mit Grössen wie Balenciaga zusammen und umfasst das ganze Spektrum der Stile. Ihre Looks sind weit mehr als blosse Kostüme. Sie sind vielschichtig wie Bartsch selbst, Amalgame, die in keine Schublade passen.
Kareem Rashed

1. Ein Event mit Wurzeln in der afroamerikanischen LGBTQ+-Community, an dem die Gäste in einem Wettbewerb um den besten
Look in verschiedenen Drag-Kategorien tanzen und modeln.
2. Eine Gruppe von Performerinnen und Performern, die als Team in Drag Balls auftreten, wie zum Beispiel das House of Xtravaganza oder das House of LaBeija.
3. Voguing ist ein Tanzstil, der aus der Ballroom-Szene von Harlem stammt und für seine typischen Serien von Posen bekannt ist.

Dieser Text wird ebenfalls in der Publikation Schweizer Grand Prix Design 2022 (Scheidegger und Spiess) abgedruckt, die im Juni 2022 im Rahmen der Ausstellung Swiss Design Awards in Basel erscheint. In der Publikation finden sich ein umfassendes Interview mit Susanne Bartsch und dem Journalisten Kareem Rashed sowie eine Bildstrecke über das Schaffen der Preisträgerin.

Susanne Bartsch
© Diana Pfammatter / BAK

Jurystatement

«Susanne Bartsch ist dank der Kreation ihrer legendären Looks und Partys ein glanzvolles Gesamtkunstwerk. Als Impresaria, Künstler-Agentin und grossherzige, offene Gastgeberin bewegt sie sich virtuos an der Schnittstelle von Mode, Make-Up, Aktivismus, Kunst, Musik und Performance. Sie ist die Muse zahlreicher Modedesigner und als Vorreiterin und Botschafterin der expressiven Selbstverwirklichung eine prägende Stilikone. Die frühe Kämpferin für die Rechte der LGBTQI-Community und die Anerkennung von Menschen mit HIV/Aids gilt in New York als inoffizielle Schutzpatronin für Transformation und Integration.»