Rosmarie Tissi

Marc Asekhame, Zürich
Interview: Vera Sacchetti, Basel

Rosmarie Tissi, 1937

Grafikdesignerin, Zürich

Die Grafikdesignerin Rosmarie Tissi lebt und arbeitet in Zürich. Noch während ihrem Studium an der dortigen Kunstgewerbeschule begann die langjährige Zusammenarbeit mit Siegfried Odermatt. Gemeinsam gründeten sie das renommierte Atelier Odermatt & Tissi, in dem sie Seite an Seite gemeinsam oder alleine an Aufträgen arbeiteten. Tissi wurde zu einer der bedeutendsten Grafikdesignerinnen des 20. Jahrhunderts: Ihr vielseitiges Werk umfasst Plakate, Banknoten, Lehrbücher, Schriftarten, Logos und ganze visuelle Identitäten. Ihr Schaffen ist bis heute eine Inspirationsquelle für Designerinnen und Designer. Tissi ist Mitglied der AGI (Alliance Graphique Internationale) und des ADC (Art Director's Club) und wird auf der ganzen Welt ausgestellt und hält regelmässig Vorträge.
Der Bund vergibt einen Schweizer Grand Prix Design an Rosmarie Tissi für die grosse Bedeutung ihres Werks und ihrer Karriere, für ihren wegbereitenden Einfluss auf Grafikdesignerinnen und Grafikdesigner sowie für ihren wichtigen Beitrag zur Geschichte des Schweizer Grafikdesigns im 20. Jahrhundert.

Essay

Spiel mit der Reduktion

Nur wenige Grafikerinnen ihrer Generation können wie Rosmarie Tissi (*1937) ein ähnlich reiches und konstantes Werk vorweisen: In nahezu 60 Jahren Berufsleben hat sie eine Vielzahl von Signeten, Erscheinungsbildern, Titelsatzschriften, Broschüren, Inseraten, Prospekten, Verpackungen und vieles mehr geschaffen - im Wettbewerb für die neue Serie der Schweizer Banknote 1989 erhielt sie den 2. Preis. Einen besonderen Stellenwert haben in ihrem Werk die zahlreichen, mehrheitlich für Kulturanlässe geschaffenen Plakate. Schon früh wurden ihre Arbeiten international wahrgenommen und ausgezeichnet. Sie wurden in Gruppen- und Einzelausstellungen gezeigt und sind in zahlreichen Sammlungen und Museen in Europa, den USA und in Japan vertreten.
Den Baustein zu ihrer Karriere legte die 19-Jährige mit dem Entschluss, die erste Lehrzeit in Winterthur in einem Grafikatelier mit wenig Engagement abzubrechen und sich bei Siegfried Odermatt in Zürich vorzustellen. Ihre Vorbilder waren die Koryphäen der neuen rationalen Schweizer Grafik, denen 1955 eine Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Zürich und eine Sondernummer der Zeitschrift Werk (Nr. 11, 1955) gewidmet waren. Einer ihrer prominenten Vertreter war der Autodidakt Odermatt. Keiner Schule verpflichtet, sollte er sich nicht nur als guter Lehrmeister, sondern auch als wichtiger Förderer erweisen. 1968 gründeten sie als gleichberechtigte Partner die Arbeitsgemeinschaft O & T; zeitlebens blieben sie sich verbunden.
Wie muss man sich diese Zusammenarbeit vorstellen? Grundvoraussetzung war sicher der Enthusiasmus beider für eine klare, konstruktive Grafik, befreit jedoch von puristisch-puritanischer Dogmatik: bei Odermatt hiess das, näher bei Struktur und Raster bleiben, bei Tissi, den Spielraum für Experimente und Brüche nutzen. Symbolisch für ihre Arbeitsweise steht die Arbeitssituation an der Schipfe in Zürich: Quer zum Giebel durchstösst der Atelierraum das Dachgeschoss - limmatseitig arbeitet Odermatt, dem Lindenhof zugewandt Tissi, beide sind mit ihren eigenen Aufträgen beschäftigt. Dazwischen steht ein Tisch, wo sich zwei starke Persönlichkeiten treffen, die Arbeiten gegenseitig kommentieren und mit Lust debattieren. Wer die besseren Ideen oder gerade freie Kapazitäten hat, übernimmt die Aufgabe. Nur ausnahmsweise kommt es zu gemeinsamen Projekten. Alljährlich kehrt Rosmarie Tissi der Enge des Ateliers den Rücken und bereist die Welt, allein.
Bereits ihr erster eigener Auftrag 1956, ein Plakat für die Herbstmesse in ihrer Heimatgemeinde Thayngen, ist von erstaunlicher Prägnanz und beweist mit seiner Reduktion auf Typografie und die Farben Rot-Schwarz-Weiss: Rosmarie Tissi hat ein untrügliches Auge für das Spannungsverhältnis von Schrift und Farbraum, von plakativer Wirkung und Informationsdichte. Schrift als Bild im Zusammenspiel mit markanten Farbkontrasten werden durchgängige Themen in Tissis Schaffen bleiben. Ab den 68er-Jahren beginnt sie die Schrift lustvoll zu demontieren und neu zu montieren. Sie befreit sie aus ihrem Regelwerk, zerlegt sie in ihre Elemente, überlagert geometrische Grundformen und Farbflächen. In den Inseraten für die belgische Werbefachzeitschrift TIPS (1968) lässt sie die Buchstaben ineinander und übereinander purzeln, spielt mit Binnenformen und Zwischenräumen, mit Negativ und Positiv, fügt sie zu Schriftbildern. In der Folge entwickelt Tissi eigene Titelsatzschriften: Sinaloa (1972) wird ins internationale Letraset-Programm aufgenommen. Mit Mindanao (1975) - im Entwurf sind es gefaltete Papierbuchstaben - betont sie das Körperliche der Schrift. Denn Papier ist für Tissi nicht einfach Flachware: 1969 erhält sie den Auftrag, erst das Signet, dann auch das Erscheinungsbild für die Textilfabrikation Mettler & Co zu entwickeln. Die Schraffur des M erinnert an Gewebe und an das Faltwerk übereinander geschichteter Stofflagen. Die Qualität des Signets zeigt sich in der Broschüre zum 250-jährigen Bestehen der Firma (1970): Dank ausgestanzter Streifenteile wird es beim Umblättern Schicht um Schicht sichtbar. Auf diesem Schichtprinzip beruht auch der Firmenkalender (1971): Jedem Monat ist eine Farbe zugeordnet, wobei die einzelnen Kalenderblätter so angeschnitten sind, dass sich im Jahreslauf sukzessive die Farbkombination des Signets ändert.
Schere und Skalpell sind für Tissi bis heute wichtige Arbeitsinstrumente geblieben. Zeitgleich mit der Do-it-yourself-Grafik der 80er-Jugendbewegung montiert sie den ausgeschnittenen Zeitungsflattersatz auf kontrastreichem Untergrund und unterstreicht so das Handwerklich-Spontane, ja beinahe Improvisierte. Erstmals wendet Tissi dieses Prinzip 1979 in Titelblatt und Rückseite der Typografischen Monatsblätter an, radikaler noch im Plakat für das Sommertheater der Stadt Zürich (1981), wo die „ausgefransten" Satzblöcke des umfangreichen Programms radikal von der roten Abendsonne auf den dunkelgrünen Grund ausstrahlen. Es ist kein Zufall, dass ein wichtiger Teil der Kundschaft aus dem Druckereigewerbe kommt und sich besonders aufgeschlossen für experimentelle typografische Lösungen zeigt. Ein sprechendes Beispiel dafür sind die Werbefolder für die Druckerei Schöb in Zürich (1982).
Immer legt Tissi Wert auf die Ökonomie der visuellen Mittel. Als Gestalterin zahlreicher Signete hat sie gelernt, sich auf das Wesentliche zu beschränken, den Kern eines Produktes, einer Firma zu erfassen und ihm eine einprägsame Form zu geben. Mit dieser Fähigkeit überzeugt sie nicht nur ihre Kunden, sondern auch Wettbewerbsjurys: Plakat und Erscheinungsbild der Kieler Woche 1990 leben von einem einfachen Motiv, den bunten Wimpeln, die steif im Wind stehen. Ob bunt oder schwarz-weiss, mit wenig Aufwand passen sich die spitzen Dreiecke am Bildrand den verschiedensten Werbeformaten an, ohne an Spannung zu verlieren. Farbklang, Rhythmisierung und Verdichtung bestimmen später auch die Plakate für die jährlichen Serenadenkonzerte der Stadt Zürich, die sich teilweise wie abstrakte, von Kandinsky inspirierte Kompositionen aus Farben, Linien und Zeichen lesen.
Rosmarie Tissi leistet mit ihrem Lebenswerk einen unverwechselbaren Beitrag zum Schweizer Grafikdesign. Ihr spielerischer Ansatz verbunden mit einer Vorliebe für starke Farbkontraste, für Schrift und geometrische Formen hat bis heute nichts an Originalität und Frische eingebüsst - vorab die zwischen 1968 und 1990 entstandenen Arbeiten gilt es wieder zu entdecken.
Claudia Cattaneo