Cindy Van Acker
Feinsinnige und widerständige Choreografin
Schweizer Grand Prix Darstellende Künste / Hans-Reinhart-Ring 2023
Cindy Van Acker, geboren 1971 in Belgien, ist seit vielen Jahren eine der herausragendsten Choreographinnen der Schweiz. Sowohl in der etablierten Theaterszene als auch mit ihrer Cie Greffe in der freien Tanzszene ist sie auch international sehr erfolgreich. Nach einer klassischen Ballettausbildung in Antwerpen tanzte sie beim Ballet Royal de Flandre. 1991 kam sie als Tänzerin zum Ballet du Grand Théâtre nach Genf. Dort gründete Cindy Van Acker 2002 die Cie Greffe. Diese wird seit 2009 von der Stadt und dem Kanton Genf sowie der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia in einer kooperativen Fördervereinbarung unterstützt. Zu den ihr wichtigen künstlerischen Begegnungen zählen die Choreographin Myriam Gourfink, der Elektronikmusiker Mika Vainio (1963-2017), der Bühnenbildner und Lichtdesigner Victor Roy und der Theatermacher Romeo Castellucci, der sie 2005 an die Theaterbiennale in Venedig einlud, um die Schweiz zu vertreten. Seit November 2017 ist Cindy Van Acker als «Artiste associée» für das Programm der Association pour la Danse Contemporaine (ADC) in Genf mitverantwortlich. Bereits zweimal gewann sie für ihre herausragenden Produktionen einen Preis im Wettbewerb zum aktuellen Tanzschaffen der Schweizer Tanzpreise: 2013 für «Diffraction» und 2019 für «Speechless Voices». Sie wurde zudem mit dem Leenaards-Kulturpreis 2023 ausgezeichnet.
Die feinsinnige Handschrift von Cindy Van Acker zeigt sich in einer minutiösen, fast wissenschaftlichen Gestaltung ihrer choreografischen Kreationen, in denen Körper, Musik und Raum zusammenwirken. Gleichzeitig zeigt sich in ihren Solo- und Gruppenarbeiten auch eine kämpferische Seite – sie selbst spricht auf Flämisch von «de strijd». Ihr Solo «Corps 00:00» (2002) zeigte sie 2005 an der Theaterbiennale von Venedig. Dieser Auftritt verhalf ihr zu internationaler Anerkennung und begründete eine bis heute anhaltende Kooperation mit Romeo Castellucci: Sie ist für die Choreografie in einigen seiner Inszenierungen verantwortlich, etwa in «Inferno» (2008), das für die Eröffnung des Festivals d’Avignon in der Cour d’Honneur du Palais des Papes geschaffen wurde. Es folgten Opern wie «Parsifal» (2011) für die Oper La Monnaie in Brüssel, «Moses und Aron» (2015) für die Pariser Oper, «Tannhäuser» (2017) für die Bayerische Staatsoper in München und drei Kollaborationen für die Salzburger Festspiele, zuletzt «Don Giovanni» (2021). «Pneuma» (2005) war ihr erstes Gruppenstück. Weitere Choreographien für grosse Ensembles schuf sie u. a. für das Ballet Junior de Genève mit «Magnitude» (2013) oder «Anechoic» (2014) für 54 Tänzerinnen und Tänzer der P.A.R.T.S-Schule in Brüssel. 2017 choreographierte sie «Elementen III – Blazing Wreck» für das Ballet du Grand Théâtre de Genève.
Cindy Van Ackers Tanz ist präzise notiert und scheint Grundsätze der formalen Komposition festzulegen: Rhythmen, Tempi, Intensitäten und Drehungen schreibt sie in äusserst komplexen, aber auch sehr schönen Partituren nieder, die schon für sich alleine Kunstwerke sind. Wenn wir ein Stück von Cindy Van Acker sehen, erkennen wir die Arbeit, die Strenge und die Suche nach einer Form, die den Klang unterstreicht und das Licht widerspiegelt, den Arm beugen und den Kopf drehen oder die Hüfte auf den Boden setzen lässt. Ein linker Arm hebt sich im Dreiertakt, während sich der rechte im Zweiertakt senkt und das Becken im Siebnertakt pendelt, so dass gleichzeitig Harmonie, Kontrapunkt und Melodie verfolgt werden. Wir nehmen aber vor allem eine ganz andere Kraft wahr, die aus intimer Tiefe auf die Formen einwirkt und Tanzende und Publikum gleichermassen durchdringt. Diese kreative Wirkung öffnet Räume, dehnt die Zeit und erweitert die Vorstellungswelten, während unsere Aufmerksamkeit für den gebogenen Arm, das gehobene Bein, den vibrierenden Klang und das brechende Licht geschärft wird.
Simone Toendury, Mitglied der Jury